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Wie Wirecard Politik und Finanzsystem bloßstellt

Der Fall Wirecard ist der größte Wirtschaftsskandal der Nachkriegszeit. Die Topmanager Markus Braun und Jan Marsalek wandern in Haft oder tauchen unter und der Wirtschaftsstandort Deutschland steht maximal beschädigt da. Über Jahre hinweg trommelten Analysten für die Aktie, Prüfer hielten die Hand auf, Aufseher schauten weg und Politiker gaben Schützenhilfe. Felix Holtermann hat Wirecard früh kritisch durchleuchtet und brisantes, bislang unveröffentlichtes Material zutage gefördert – unter anderem die letzten Nachrichten des Vorstands Marsalek auf der Flucht. Ein Wirtschaftskrimi, der tief blicken lässt und die Defekte der deutschen Finanzwelt gnadenlos offenlegt.

Wire­card ist der größte Wirtschaftsskandal der deutschen Nachkriegszeit. In 20 Jahren wächst der Zahlungsabwickler aus Aschheim bei München vom dubiosen Finanz-Start-up zum internationalen Technologieriesen, wirft die Commerzbank aus dem Dax, ist mehr wert als die Deutsche Bank. Anleger lieben die Aktie, Banker hofieren das Management, die Politik gibt Schützenhilfe. Und dann ist binnen sieben Tagen und sieben Nächten alles aus.

Der Ex-Chef sitzt mit weiteren Topmanagern in Untersuchungshaft, andere sind auf der Flucht oder überraschend verstorben, Geheimdienste mischen mit. Die Staatsanwaltschaft ermittelt intensiv, in der zweiten Jahreshälfte 2021 soll Anklage erhoben werden. Was wir bereits wissen: Wire­card hat die Hälfte seiner Kunden erfunden und ein Viertel seiner Bilanzsumme gefälscht. Ein Börsenwert von bis zu 24 Milliarden Euro hat sich in Luft aufgelöst. Viele Kleinanleger stehen vor dem Verlust ihrer Lebensersparnisse.

Wie ist das möglich? Der Kampf um die Deutungshoheit ist bereits entbrannt, wird von interessierten Kreisen geführt, wobei sich zwei Erzählungen gegenüberstehen.

Die erste beruhigt die Nerven: Wire­card ist demnach ein Betriebsunfall der Marktwirtschaft. Eine Bande von Betrügern kapert ein New-Economy-Start-up aus dem Vorzeigefreistaat Bayern. Zunächst setzt das Management auf Zahlungsabwicklung und Geldwäsche für Trading, Gambling, Porno von legal bis illegal. Bald merkt es, dass es noch einfacher Geld verdienen kann: Statt in reales Geschäft zu investieren, befeuern die Manager die große Börsen-Story, erhalten frisches Geld von Aktionären, Banken, Fonds. Damit stopfen sie Finanzierungslöcher, schaufeln sich Hunderte Millionen Euro in die eigene Tasche. Am Ende täuschen die Gangster mit hoher krimineller Energie alle Aufpasser, Anleger und Politiker – und sehen nun ihrer gerechten Strafe entgegen. Case closed.

Die zweite Erzählung ist beunruhigender, dafür deutlich näher an der Wahrheit: Wire­card ist kein Kriminalfall aus dem Aschheimer Gewerbegebiet, wo zwischen Bahngleisen und Autokino eine Gangsterbande ihr Unwesen trieb. Der größte Betrugsfall der Nachkriegszeit steht für mehr: Wire­cards Absturz legt pars pro toto die Abgründe unseres Wirtschaftssystems offen, rüttelt an den Grundfesten des Finanzkapitalismus und entlarvt vermeintliche deutsche Gewissheiten als Selbstbetrug. Der Fall ist damit nicht weniger als ein Lehrstück über Technologiegläubigkeit, Investorengier und Korruption, ein Sittengemälde über die Abgründe der Hochfinanz – und ein Weckruf für den Zustand unseres politischen Systems.

Aber der Reihe nach. Was macht Wire­card eigentlich? Ganz einfach: Das Geschäftsmodell besteht darin, digitales Geld von A nach B zu schicken. Das ist ein Markt mit Zukunft, weil das Bargeld verschwindet und die gläserne Zahlung per Karte und App auf dem Vormarsch ist. Die Banken könnten dieses Geschäft auch selbst betreiben, doch weil die Spitzen der Finanzwelt, allen voran Visa und Mastercard, früh entschieden haben, sich nicht die Finger in den Untiefen des Zahlungsverkehrs schmutzig zu machen, sind Spezialisten entstanden. Spezialisten für Daten, für vermeintlich saubere Zahlungsströme, Spezialisten wie Wire­card, eine Art Paypal für Unternehmen. Die teutonische Antwort auf das Silicon Valley stand kurz vor dem Sprung zur Weltgeltung. Und Manager, Anleger, Aufseher, Banker, Börsen, Politiker, ja, auch viele Journalisten träumten fröhlich mit.

Dabei hatte es früh Warnungen gegeben: Bereits 2008 zweifelten Hobbyanalysten die Wire­card-Zahlen an, 2015 zeigten kritische Investoren Unregelmäßigkeiten in der Bilanz auf, 2019 warnte die renommierte Zeitung Financial Times (FT). Doch kaum einer hörte zu. Kritiker bedrohte der Konzern offen durch Klageorgien, Rufmord, Beschattung, Gewalt. Und Jasager, Wegseher und Möglichmacher entlohnte er auf vielfältige Art und Weise. 20 Jahre ging das gut: Die deutsche Öffentlichkeit hofierte ein Betrugsgebilde, das nicht erst 2015 entstand, wie die Münchner Staatsanwaltschaft glaubt, sondern schon in den Nullerjahren.

Fast alle machten mit: Die zuständige Aufsicht Bafin stellte sich schützend vor den Konzern, ihre Beamten verdienten mit Aktienspekulation auf Insiderwissen. Die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young (EY) und Co. setzten zehn lange Jahre ihre Unterschrift unter erfundene Zahlen und verdienten schnelles Geld mit Beratungsdiensten. Die Rating-Agentur Moody’s vergab wie üblich eine positive Bewertung, 15 Großbanken gaben bereitwillig Millionenkredite. Die Deutsche Börse öffnete ihren Leitindex Dax, die Anlegermagazine trommelten zum Aktienkauf. Und Kleinsparer wie Großinvestoren gierten nach ihrem Anteil am fantastischen 30-Prozent-Wachstum, das Wire­card Jahr für Jahr auswies. Sogar die Geheimdienste sahen vor allem den Datenschatz aus Deutschland.

Betrogen wurde ein System, das betrogen werden wollte. Ins Verderben geführt hat Wire­card nicht nur die Gier nach Geld, Macht und Größe, sondern die simple Überzeugung, alle in der Tasche zu haben. Am Ende schauten die Entscheider weg, hielten die Hand auf oder taten beides. Der Betrug war kein Betriebsunfall, der Betrug war Kern des Geschäftsmodells. Der Markt reinigte sich nicht selbst, sondern suchte im Aschheimer Schlamm nach neuen Profiten. Und die Politik, die Hüterin der öffentlichen Sache? Über ihre Rolle wird gesondert zu sprechen sein.

Schon heute ist klar: Der Fall Wire­card beschädigt die wichtigsten politischen Ämter. In Wien ließ sich der konservative Jungkanzler Sebastian Kurz von CEO Markus Braun beraten, rechtsextreme Politiker und Spione kungelten mit Wire­cards Asienvorstand Jan Marsalek. Und auch in München und Berlin gab es keine Berührungsängste. Ein Ex-Polizeipräsident diente sich dem Konzern an, ein Staatssekretär traf Braun an dessen 50. Geburtstag, Ministerialreferenten erfüllten hinter den Kulissen Wire­cards Wünsche. Ein früherer Geheimdienstchef lobbyierte im Kanzleramt, Ex-Minister Karl-Theodor zu Guttenberg bei Angela Merkel. Die Bundeskanzlerin selbst warb beim Pekinger Staatsbesuch für den Konzern. Und der zuständige Finanzminister Olaf Scholz schaute, wieder einmal, weg.

Die Old Economy Deutschland, das Land der Autobauer und Schraubenhändler, gierte nach einem globalen, digitalen Finanzwunder – und schien es mit Wire­card gefunden zu haben. Sein Untergang könnte nun zum Menetekel werden für das bundesrepublikanische Laisser-faire gegenüber mächtigen Finanzkonzernen und vermeintlichen Digitalvorreitern.

Es geht – ja – ums System. Wird die Macht der Skrupellosen, des Geldes und seiner Lakaien nicht durch den Rechtsstaat gebrochen, dann droht der nächste Fall Wire­card oder Schlimmeres.

Felix Holtermann

Felix HoltermannFelix Holtermann hat die Kölner Journalistenschule absolviert und VWL und Politik studiert. Er beschäftigte sich wissenschaftlich mit der ökonomischen Wachstumstheorie und ihren Kritikern. Holtermann arbeitete nach einem crossmedialen Volontariat beim WDR als Wirtschaftsredakteur. Er war ab 2017 Redakteur am Finanzdesk des "Handelsblatts" und ist seit 2019 Finanzkorrespondent der Zeitung. Seine Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem 2019 mit dem Deutschen Journalistenpreis.

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