Was Besseres? Der Adel und seine Werte
Verwegene Raubritter, treue Staatsdiener und erfolgreiche Gutsbesitzer: In der Geschichte der Familie von Puttkamer spiegelt sich das deutsche Schicksal vieler Jahrhunderte Vor dem Hintergrund des idyllischen Hinterpommern entfaltet dieses Buch ein unterhaltsames, anekdotenreiches und informatives Panorama des deutschen Junkeradels in seinem Glanz und Elend – und seiner erstaunlichen Überlebenskraft nach der Stunde null von 1945. Lesen Sie zum Erscheinen des Buches „Zwei Eichen und zwei Linden“ einen Auszug aus dem Kapitel Was Besseres? Der Adel und seine Werte.
Von jemandem zu sagen, er halte sich für »was Besseres«, ist in der Regel kritisch gemeint. Man will damit ausdrücken, dass jemand Vorrechte beansprucht, die er sich nicht durch Leistung verdient hat. Aber die Formel kann auch einen Anspruch an sich selbst bedeuten: Adel bedeutet dann das Bestreben, besser zu sein als der Durchschnitt – moralisch und in der Leistung. Zwischen diesen beiden Polen changiert das Bild des Adels heute.
Dem Großteil der Bevölkerung sind seine Welt und seine Werte heute fremd. Dabei strahlen sie weiterhin eine Faszination aus. Man hat Bilder vor Augen, die meist aus Filmen oder Zeitschriften stammen. Man bewundert, man träumt – und man verurteilt gerne hämisch, wenn jemand aus dem Adel nicht dem Bild entspricht, das man sich von ihm macht. Man verwendet das »von« oft mit respektvollem Unterton, in den sich manchmal auch ein aus Unsicherheit stammender Spott mischt. Aber sobald es um detailliertere Fragen geht, enden oft das Wissen, das Interesse und auch das Verständnis.
Was also bedeutet »Adel« überhaupt – historisch und aktuell?
Im 18. Jahrhundert brachten zwei Puttkamer das Selbstverständnis eines adeligen Offiziers zu Papier.
Der Lebenslauf des bereits im 3. Kapitel erwähnten Nikolaus Lorenz (1703–1782, Versin) schließt mit einer Bemerkung, die sein Standesbewusstsein sehr prägnant wiedergibt:
… und sonsten habe ich mich in meinem übrigen Lebenswandel gegen meine Vorgesetzten jederzeit überaus Ehrerbietig, und gegen meines gleichen allemahl freundschaftlich bewiesen, meine Untergebenen aber, wußte ich zu ihrer Schuldigkeit, und in gehöriger Manneszucht zu halten, welche zwar allemahl mehr die Gelindigkeit, als Schärfe zum Grunde gehabt, doch aber ohne mir etwas an der Achtung und deren Rechten zu vergeben, so man meinem Stande schuldig gewesen, als worauf ich jederzeit sorgfältig und mit Nachdruck bedacht gewesen.
Und der etwa gleichzeitig lebende Alexander Dietrich (1712–1771, Wollin) schrieb einem seiner Söhne – vermutlich anlässlich des Eintretens ins Militär – die folgenden Lebensregeln ins Stammbuch:
Fürchte Gott und bete ihn an! Ehre und verehre Deinen Souverain! Schone nicht Dein Leib und Leben, Gut und Blut in seinem glorieusen Dienst aufzuopfern. Respectire Deine hohen Chefs und Commandeurs und expedire deren Ordres mit Ehrfurcht! Gegen Deine Gameraden sei fier [stolz], doch recht aufrichtig gesinnt, ohne familiarite [Vertraulichkeit]! Gegen Deine Untergebenen sei höflich, ohne niederträchtig zu werden.
Beide Zeugnisse drücken Ähnliches aus – wobei man dem Stil Alexander Dietrichs deutlich anmerkt, dass er eine Universität besucht und dort Latein gelernt hat. Ein adeliger Offizier muss seinen Platz in der Hierarchie exakt kennen und sein Verhalten danach ausrichten. Seine privilegierte Stellung soll er nicht zum Drangsalieren seiner Untergebenen missbrauchen. Gegenüber Gleichgestellten soll er sich freundlich, selbstbewusst und ehrlich verhalten. Und Höhergestellten schuldet er Gehorsam und Opferbereitschaft – wie erst recht dem König und Gott. Diese Aussagen gelten nicht nur für die militärische, sondern auch für die standesrechtliche Rangordnung. Die damals noch unangefochten war.
Und wie sieht der Adel sich heute, einhundert Jahre nach der Abschaffung seiner rechtlichen Vorrangstellung? Welche Werte hält man hoch? Und was unterscheidet Adelige bis heute von Nichtadeligen – wenn man vom ersten Erkennungszeichen absieht, dem »von«?
Heute spielen der Name und das Namensrecht eine erhebliche Rolle für den Adel – dazu unten mehr. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts hatte das Adelsprädikat »von« keine allzu große Bedeutung. Diese Präposition drückte ja ganz ursprünglich nur die geographische Herkunft eines Menschen aus – also aus welchem Ort, von welchem Stück Land er kam. Und bis Anfang des 19. Jahrhunderts erkannte man einen Adeligen nicht so sehr am »von« als vielmehr daran, dass er Land besaß und eine hohe Position einnahm. Grundbesitz und Adel waren identisch. Adelig war, dessen Vorfahren vom Fürsten mit Land belehnt worden waren. Dafür schuldete er dem Herrscher Treue und Dienste – zunächst handfesten Kriegsdienst, später die Stützung der Herrschaft. Und aus dieser herausgehobenen Stellung erwuchsen ein ganzes Bündel von Privilegien, ein besonderer Status – und eine Reihe von Eigenschaften.
Historisch gesehen zeichnet sich der Adel unter anderem durch folgende Charakteristika aus:
- Man war überzeugt von einer vererbbaren, »blutsmäßigen« Ungleichheit der Menschen oder gar einer göttlich gewollten Höherstellung des Adels.
- Der Adel war ein exklusiver Kreis von Menschen bzw. Familien, in den man nur durch Geburt, durch Heirat (nur als Frau) oder – seltener – durch eine anerkannte Adoption oder durch Ernennung aufgenommen werden konnte.
- Man heiratete in der Regel untereinander.
- Die Familie und die ununterbrochene Generationenfolge genossen absolute Priorität.
- Man orientierte sich in der Lebensführung (idealerweise) an Ehre und Ritterlichkeit.
- Die Lebensform war an Landbesitz gebunden.
- Man übte Herrschaft aus und verstand diese Tätigkeit – zu Recht oder zu Unrecht – als Dienst oder sogar als Opfer.
- Man genoss Privilegien, war also rechtlich bevorzugt.
Einige dieser Charakteristika treffen bis heute zu. Andere erloschen mit der »Verbürgerlichung« der Gesellschaft und der Aufhebung aller rechtlichen Ausnahmen für Adelige 1919 – oder nach 1945 mit der Vertreibung und der abnehmenden Bedeutung der Landwirtschaft.
Die ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Privilegien, die der Adel einst genoss, sind überwiegend schon genannt worden: Neben Landbesitz zählten hierzu auch Steuerfreiheit, Befreiung vom Militärdienst, Unterwerfung nur unter das höchste Gericht des Landes und privilegierte Behandlung. So mussten Adelige einen Arrest, wenn er denn verhängt wurde, nicht im Gefängnis verbringen, sondern durften auf ihrem Gut bleiben. Und wo immer ein Adeliger auf die Angehörigen anderer Stände traf, hatte er Vorrang und Anspruch auf streng festgelegte Ehrerbietung. Außerdem hatte der Gutsbesitzer die lokale Polizei- und Gerichtsgewalt über die Masse der fast rechtlosen Landbevölkerung, das exklusive Recht zum Besetzen politischer und kirchlicher Ämter, aber auch das Jagdrecht und das lukrative Brau- und Branntweinmonopol. Und die Einkünfte aus dem Landbesitz ermöglichten vielfach eine gute oder gar herrschaftliche Existenz ohne eigene Arbeitsleistung. Andererseits gab es auch verarmte Adelige, die geradezu im Elend lebten – weil das Privileg, zum Gelderwerb nicht arbeiten zu müssen, zugleich auch ein standesrechtliches Verbot war: Die allermeisten Berufe durften Adelige bis ins 19. Jahrhundert gar nicht ausüben.
Über die Folgen der adeligen Privilegien für die breite Bevölkerung hat sich im Zuge der Aufklärung ausgerechnet ein adeliger Autor geäußert, den man oft nur mit Hinweisen zu höfischem Benehmen und Etikette in Verbindung bringt. Adolph Freiherr von Knigge schrieb in seinem Traktat »Über den Umgang mit Menschen« 1788:
In den mehrsten Provinzen von Deutschland lebt der Bauer in einer Art von Druck und Sklaverei, die wahrlich oft härter ist als die Leibeigenschaft desselben in andern Ländern. Mit Abgaben überhäuft, zu schweren Diensten verurteilt, unter dem Joche grausamer, rauhherziger Beamter seufzend, werden sie des Lebens nie froh, haben keinen Schatten von Freiheit, kein sicheres Eigentum und arbeiten nicht für sich und die Ihrigen, sondern nur für ihre Tyrannen.
Und auch Goethe, auf dessen proaristokratische Gesinnung wir weiter unten zu sprechen kommen, ließ seine Gräfin im unvollendeten Revolutionsstück »Die Aufgeregten« sagen: Ich habe es sonst leichter genommen, wenn man Unrecht hatte und im Besitz war. Die Privilegien waren vielfach reine Gewohnheit; man war überzeugt, dass sie einem zustanden – und man verstand sie keineswegs immer als Verpflichtung zur Fürsorge für weniger Begünstigte.