Wagner – ein ewig deutsches Ärgernis
Richard Wagner wurde in Deutschland ganz unterschiedlich rezipiert: Es gab die historisch-politische Person, den genialen Tondramen-Schöpfer und Wagner, den erbitterten Antisemiten. In seinem neuen Buch zeichnet Moshe Zuckermann die Gestalt Wagners als das deutsche Ärgernis nach: seine Wandlung vom linken Revolutionär zum angepassten Königstreuen. Er untersucht die geistesgeschichtliche Zuordnung seines Denkens und den latenten Antisemitismus in Wagners Opern.
In einem 1973 erschienenen Artikel nennt Jost Hermand den Dichter Heinrich Heine »ein permanentes Ärgernis«. Schon im Titel des Aufsatzes (Das falsche Ärgernis) ist Hermands Intention zu erkennen: Ein Heine, der mehr als hundert Jahre nach seinem Tod noch immer ein Ärgernis in Deutschlands Bundesrepublik darzustellen vermag, entlarvt eine anachronistische, weil immer noch nicht bewältigte, politische Idiosynkrasie, deren Ursprung, Verbreitung und Verfestigung sich bis tief in Deutschlands geschichtliche Entwicklung im 19. Jahrhundert zurückverfolgen lassen. Das Phänomen Heine wird zum dialektisierenden Paradigma dieser Entwicklung erhoben; denn, so Hermand, »wenn man Heine nicht akzeptiert, akzeptiert man auch die Demokratie in Deutschland nicht«.
Ein 1982 von Klaus Umbach herausgegebenes Buch über den Komponisten Richard Wagner trägt den Titel Richard Wagner. Ein deutsches Ärgernis. Nicht von ungefähr gebraucht Umbach dieses Attribut, denn auch für ihn steht die von ihm anvisierte historische Gestalt für eine Entwicklung. »In Wahrheit«, schreibt er, »fügen sich Wagners Leben und das Jahrhundert nach ihm bruchlos ineinander. […] Das Jahrhundert nach Wagner ist Wagners größter und bedenklichster Triumph.« Zwei deutsche Ärgernisse also beziehungsweise zwei Ärgernisse des deutschen 19. Jahrhunderts.
Es erhebt sich gleichwohl die Frage: Ist eine solche Assoziation angängig? Die des Juden Heinrich Heine mit dem obsessiven Antisemiten Richard Wagner? Des Dichters Heine, dessen Schriften der Bücherverbrennung von 1933 zum Opfer fielen, mit dem von den Nazis zum geistigen Vorläufer hochstilisierten Komponisten Wagner? Es scheint, als seien es gerade diese Gegensätze, die den Reiz des Assoziativen ausmachen – nicht so sehr wegen der archetypischen Komplementärbeziehung des Juden mit dem Antisemiten; auch nicht wegen des historisch belegten literarischen Einflusses, den Heine auf Wagner ausgeübt hat, sondern primär deshalb, weil Heine und Wagner in ihrem »Ärgernis«-Sein, mithin als Paradigmen, die polarisiert entgegengesetzten Möglichkeiten des »deutschen Weges« im 19. Jahrhundert personifizieren. Thomas Mann verfolgte wohl einen ähnlichen Gedanken, als er (sich allerdings auf Goethe beziehend) 1911 sagte: »Die Deutschen sollte man vor die Entscheidung stellen: Goethe oder Wagner. Beides zusammen geht nicht. Aber ich fürchte, sie würden Wagner sagen […].«
Ein Ärgernis waren Heine und Wagner schon zu Lebzeiten – der eine in der ersten, der andere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirkend. Entscheidend für den Ausgangspunkt der vorliegenden Betrachtung ist die Geschichte ihrer späteren Rezeption. Heine, den man »als den Bonapartisten und den wahren Sohn des Rheins, als den besten deutschen Patrioten und den wildesten Preußenfresser« ansah; der »ein Prophet des Kommunismus« war, »lange bevor er den jungen Marx in Paris traf«; der »die Zukunft des Kommunismus treffender entlarvt« hat, »als später die geschulte Armee der abtrünnigen Kommunisten«; der da »Sensualist, ja Hedonist, dort Spiritualist, der Hellene hier und der ewige Jude dort, der Überwinder des Hegelianismus und der Prophet des Saint-Simonismus, der atheistische Sohn der Revolution und der kokette Deist« war, wie Hermann Kesten schrieb; dieser Heine »wurde von allen falschen Patrioten gehasst, weil er ein Kosmopolit war, ein Freund Frankreichs und der Freiheit, ein Freund der armen Leute und der Emanzipation«. Ganz zu schweigen von den Nazis, denen er »natürlich als der große Antibarbar verhasst« war. Und in der Bundesrepublik herrschte, so Jost Hermand, noch bis Ende der Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts überall »Lähmung, Zögern, peinliches Schweigen oder höchstens vorsichtiges Anpassen«, wenn es um Heine ging.
Heines provokante Gestalt stach besonders grell in der spezifischen sozialen und politischen Situation Deutschlands im Vormärz hervor. Die bürgerlich-politische Revolution stand noch bevor, als die Verschärfung der sozialen Gegensätze den Konflikt zwischen dem Bürgertum und dem allmählich aufbegehrenden Proletariat offen zutage legte. Von einem entwickelten proletarischen Klassenbewusstsein konnte indes damals noch nicht die Rede sein. Träger der Hoffnungen auf die Errichtung eines auf Volkssouveränität beruhenden Einheitsstaates und auf den damit verbundenen Sturz des auf Geburt und Herkunft beruhenden Privilegiensystems waren die deutschen Demokraten und Liberalen. Der Widerspruch zwischen der abstrakten politischen Zielsetzung und der objektiven sozialen Entwicklung musste denn auch zu einem Scheitern der Revolution führen: Die sozialen Forderungen der Massen waren mit den politischen und konstitutionellen Postulaten des Bürgertums schlechterdings nicht vereinbar.
War die Revolution von 1848 der gleichsam verspätete Versuch eines Nachvollzugs der großen Französischen Revolution, so war ihr Scheitern mit einer umso größeren Ernüchterung und einer sowohl politischen als auch geistigen Wende verbunden: Das Vordringen der Reaktion im ganzen Reich kulminierte in den bismarckschen Siegen ab 1860 bis hin zur undemokratischen Reichseinigung »von oben«. Im kulturell-geistigen Leben bewirkte die misslungene Revolution eine Flucht in die subjektive Innerlichkeit einerseits und in die ideologische »Abwendung von der Welt« andererseits. Die Auffassung der Kunst als mögliche Linderung menschlichen Leids erhielt in Schopenhauers kulturpessimistischen (Willens-)Lehre eine bedeutende philosophisch ideologisierte Untermauerung.
Richard Wagner personifizierte, mehr als jede andere Künstlergestalt des deutschen 19. Jahrhunderts, diese Gesamtentwicklung. Es ist im hier erörterten Zusammenhang gerade bei ihm angebracht, sowohl die politische als auch die künstlerische Genese zu verfolgen. Denn eine Trennung beider Ebenen ist inadäquat, wie Hans Meyer bemerkt: »Richard Wagners politische Grundanschauungen sind keineswegs als ein »nebenher« gegenüber seinen großen musikdramatischen Gestaltungen zu verstehen. Ohnehin verbietet sich eine solche Aufteilung zwischen der politischen und der »rein künstlerischen« Sphäre bei Wagner von selbst. Denn er vor allen strebte in aller Bewusstheit nach der Einheit von künstlerischer Form und weltanschaulichem Gehalt.«
Es ist nun dieser »weltanschauliche Gehalt«, der Wagner als ein »deutsches Ärgernis« erscheinen lässt. Ein geglücktes 1848 hätte – pauschal ausgedrückt – einen Rückzug in die »deutsche Innerlichkeit« im Sinne einer Flucht aus dem Leben in die Irrationalität, ins Mythische, in »die Kunst um der Kunst willen« als Ideologie, hätte Bismarck, vielleicht gar Hitler unwahrscheinlich gemacht. Eine erfolgreiche Revolution 1848 hätte Deutschland vermutlich auf den demokratischen Pfad geführt und einem Heine gehuldigt. Nur ein undemokratisches Deutschland konnte Wagner als Hohepriester deutschen Geistes feiern. So ließe sich aus dem bisher Dargelegten schlussfolgern. Aber stimmt es so? Kann dies so apodiktisch behauptet werden? Was Heine anbelangt, gewiss. Bei Wagner liegen die Dinge weitaus komplizierter.