Von vermeintlichen Mehrheiten und Minderheiten
Rechtspopulismus ist in Europa auf dem Vormarsch. Aber ist Sahra Wagenknechts „Sammelbewegung“, ihre Kampagne „Aufstehen!“, die Lösung? Lesen Sie zum Erscheinen von „Die Volksverführer“ den Kommentar von Autor Daniel Bax.
Eine „Sammlungsbewegung“ soll es jetzt richten und Rechtspopulisten das Wasser abgraben. „Aufstehen!“ heißt die Kampagne, mit der Sahra Wagenknecht all die Unzufriedenen einsammeln will, die von der etablierten Politik enttäuscht sind. Auch der AfD will sie damit Wähler abspenstig machen, wie sie erklärt. Wagenknecht meint, dass deren Hass auf Flüchtlinge und Migranten nur „der falsche Ausdruck einer Wut ist, die sich in ganz anderen Lebensbereichen angesammelt hat“, wie sie dem „Spiegel“ gegenüber sagte. In Wahrheit ginge es diesen Menschen um ganz andere Themen, glaubt Wagenknecht zu wissen: um Niedriglöhne, schlechte Pflege, verfallende Schulen und Mietwucher. Gerade Ärmere gingen der AfD auf den Leim, weil sie sich von der Politik im Stich gelassen fühlten.
Das ist eine These, die sehr verbreitet ist. Leider gibt es dafür allerdings wenig Belege. Viele Studien zeigen vielmehr, dass es keineswegs in erster Linie die wirtschaftlich „Abgehängten“ sind, die sich Bewegungen wie Pegida oder der AfD zuwenden. Wähler der AfD finden sich in allen Schichten und gesellschaftlichen Mileus wieder. Sie eint auch nicht, dass sie mit ihrer wirtschaftlichen Lage unzufrieden wären. Vielmehr reagieren sie auf einen gesellschaftlichen Wandel, den sie ablehnen und für den sie die in ihren Augen zu liberale Eliten, insbesondere aber Flüchtlinge und Migranten als Sündenbock verantwortlich machen. Man muss sich klarmachen: Die meisten Wähler der AfD wollen tatsächlich, wofür diese Partei steht – die Aufnahme von Flüchtlingen und die Einwanderung begrenzen sowie Muslime, Migranten und andere Minderheiten als Bürger zweiter Klasse behandeln und diskriminieren. Sie wollen einen weniger liberalen Staat und eine weniger offene Gesellschaft.
Wagenknecht orientiert sich mit ihrer „Sammelbewegung“ nach einiger Aussage an Vorbildern wie „La France insoumise“ von Jean-Luc Mélenchon, an Bernie Sanders in den USA und der „Momentum“-Bewegung, die Jeremy Corbyn an die Spitze der britischen Labour-Partei gebracht hat. Aber ist deren linker Populismus gegen „die da oben“ und „das Establishment“ ein probates Mittel gegen rechten Populismus? Zweifel sind angebracht. Mélenchon etwa konnte bisher kaum Wähler des Front National auf seine Seite ziehen. Sein Erfolg bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich im Mai 2017, bei denen er auf rund 20 Prozent der Stimmen kam, beruhte vor allem darauf, dass er ehemalige Wähler der Sozialistischen Partei, die von der Amtszeit von Francois Hollande enttäuscht waren, für sich gewinnen konnte. Jeremy Corbyn hat viele durch seine unklare Haltung zum „Brexit“-Referendum irritiert, dem Herzensanliegen britischer Rechtspopulisten und Nationalisten. Und ob ein Bernie Sanders gegen Donald Trump wirklich bessere Chancen gehabt hätte als Hillary Clinton bleibt reine Spekulation.
Nichts spricht dagegen, sich für höhere Löhne, bezahlbare Mieten und sichere Renten und gegen befristete Arbeitsverträge und Armut bei Kindern oder im Alter einzusetzen, wie es sich die „Aufstehen!“-Kampagne auf die Fahnen geschrieben hat. Deswegen muss man aber noch lange nicht auf den Einsatz für eine humane Flüchtlingspolitik oder die Rechte von Minderheiten verzichten, wie es Wagenknecht und ihre Unterstützer tun. Das ist purer Opportunismus und vielmehr eine Kapitulation vor dem allgemeinen Rechtsruck als ein wirksames Gegenmittel dagegen.
Es ist außerdem ein strategischer Denkfehler, die Interessen der vermeintlich „Abgehängten“ und der kleinen Leute gegen die Interessen von Minderheiten auszuspielen. Denn auch „kleine Leute“ und „Abgehängte“ können Minderheiten angehören. Im Niedriglohnbereich und in prekären Arbeitsverhältnissen arbeiten oft Menschen aus Einwandererfamilien oder ehemalige Flüchtlinge, und diese sind häufiger von Armut betroffen. Ebenso finden sich Schwule, Lesben und andere sexuelle Minderheiten in allen Schichten der Gesellschaft, auch in ärmeren. Und alleinerziehenden Müttern kann es nicht nur wichtig sein, finanziell über die Runden zu kommen, sondern auch, nicht als Frau diskriminiert zu werden. Kurz gesagt: es gibt viele „kleine Leute“ und „Abgehängte“, denen Antirassismus und eine diskriminierungsfreie Gesellschaft wichtig sind.
Dass eine sozialere Politik, wie sie Wagenknecht vorschwebt, hierzulande bisher keine Mehrheit gefunden hat, könnte überdies auch andere Gründe haben, als sie glaubt. Vielleicht liegt es ja schlicht daran, dass viele Wähler ihre wirtschaftliche Lage und die ihres Landes dann vielleicht doch nicht als so dramatisch empfinden, wie Wagenknecht und ihre Unterstützer sie gerne zeichnen? Stattdessen hoffen sie, die Ressentiments der AfD-Wähler für die eigenen politischen Ziele einspannen zu können. Die Erfahrung zeigt: linkspopulistische Parteien sind vor allem dort erfolgreich, wo viele Menschen unter der wirtschaftlichen Lage leiden. In Europa sind das insbesondere die Länder des Südens, die bis heute die Hauptlast der Eurokrise tragen mussten. Der Blick nach Griechenland oder Italien zeigt allerdings, dass auch linker Populismus für falsche Versprechungen und Opportunismus, einfache Feindbilder und nationalistische Töne anfällig ist. Dass Syriza in Griechenland und die 5-Sterne-Bewegung in Italien beide Koalitionen mit Rechtspopulisten eingegangen sind, ist ebenfalls ernüchternd. Kein Wunder, dass Wagenknecht beide nicht als Vorbilder nennt, obwohl beide in ihren Ländern ja sogar die Regierungen anführen.
Populisten huldigen einem Kult um „die Mehrheit“. Sie behaupten, eine schweigende Mehrheit zu vertreten, und suggerieren, dass diese Mehrheit grundsätzlich recht hat. Sie bedienen populäre Stimmungen und Ressentiments und berufen sich gerne auf den „gesunden Menschenverstand“. Gerade rechte Populisten streben letztlich ein autoritäres Regime an, bei dem nur der vermeintliche Wille der Mehrheit zählt. Alle anderen müssen sich diesem Mehrheitswillen unterordnen. Sie wollen nicht nur Minderheiten vorschreiben, wie sie sich zu verhalten haben, sondern auch Pressefreiheit und Pluralismus einschränken und den Rechtsstaat beschneiden. Das zeigen nicht zuletzt die Entwicklungen in Ländern wie Ungarn, Polen oder der Türkei.
Auch Sahra Wagenknecht argumentiert mit dem vermeintlichen „Interesse der Mehrheit“, das sie gegen die „oberen Zehntausend“ und „die Finanzeliten“ in Stellung bringt. Mit ihrer Sammlungsbewegung will sie dieser angeblichen Mehrheit zu ihrem Recht verhelfen. Doch sie ist nicht die einzige, die diese vermeintliche Mehrheit im Blick hat. Auch die SPD ist in asyl- und integrationspolitischen Fragen seit der letzten Bundestagswahl merklich umgeschwenkt. Schon in den Koalitionsverhandlungen mit der Union hat sie frühere Positionen zu den Themen Einwanderung, Asyl und Europa stillschweigend geräumt. Andrea Nahles vertritt inzwischen öffentlich einen harten Kurs gegenüber Flüchtlingen („können nicht alle aufnehmen“) und Einwanderern, die sich „nicht an die Regeln halten“.
Wagenknechts „Sammelbewegung“ konkurriert nun also mit der SPD darum, wer seine bisherigen flüchtlings- und migrationspolitischen Grundsätze schneller über Bord wirft, weil er diese für nicht mehrheitsfähig hält. Die Aufgabe progressiver Politik sollte es aber nicht sein, dem Willen einer vermeintlichen Mehrheit nachzulaufen und ihn bloß umzusetzen. Sondern, für eigene Überzeugungen einzustehen und im Zweifelsfall für andere Mehrheiten zu kämpfen. Soziale Forderungen und Einsatz für Minderheiten oder Flüchtlinge und deren Rechte müssen sich dabei nicht ausschließen, sondern gehören zusammen.