The Beast of Brexit
Dieses Exzerpt aus einer Streitschrift von Heathcote Williams erschien vor kurzem in der London Review of Books und kritisiert den Mann, der bestrebt ist, der nächste britische Premierminister zu werden – ein Mann, der in Williams Augen „nicht einmal geeignet ist, Verantwortung für eine Schubkarre zu übernehmen“.
Vor vielen tausenden Jahren waren die britischen Inseln noch Teil des europäischen Festlandes. 1200 Jahre ist es her, dass Karl der Große eine Pan-Europäische Identität inklusive eigener Silberwährung – der Mark – für die Bewohner Europas ins Leben rief. Ihm wird nachgesagt, dass er damit, von heute auf morgen, Licht ins finstere Mittelalter getragen hat.
Unter diesem historischen Gesichtspunkt wirken die Protesterklärungen der ‚kleinen Engländer‘, wie George Orwell die xenophoben Politiker und Bürger bezeichnet hätte, die es mit dem Abbruch des europäischen Experiments plötzlich so eilig haben, geradezu lächerlich.
„Wir müssen einander lieben oder sterben“ schrieb einst der Dichter W.H. Auden. Denn entgegen dem berechnenden Kalkül der Zahlenjongleure aus den ‚Leave Europe Now‘ und den Brexit (Britain-Exit)-Lagern in Großbritannien gibt es eine höhere, eine wichtigere Instanz zu respektieren: jenen mächtigen Staatenbund, der, in den Worten der Präambel der europäischen Verfassung von 2005, inspiriert ist vom „kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben“.
Trotz der vielen Verfehlungen Europas ist nicht abzustreiten, dass seine Gerichtshöfe weitgreifende Umweltschutzgesetze erlassen und verteidigt haben, die niemals zustande gekommen wären, hätte man die Verantwortung den Parlamenten individueller Nationalstaaten überlassen. Ebenso haben sie nicht nur faire Bedingungen und Rechtsgleichheit in Hinblick auf die Bedürfnisse der europäischen Arbeiterschaft durchgesetzt, sondern auch die Boni der Banker beschränkt und eine Reisefreiheit im Sinne der Menschenrechte gewährleisten können (Europa ist schließlich auch erst durch Invasionen von Jägern und Sammlern aus Afrika in grauer Vorzeit entstanden).
Die vielleicht wichtigste Aufgabe der Europäischen Union besteht jedoch in der Vermeidung und Auflösung jener Konflikte, die Europa in den vergangenen tausend Jahren mit zunehmender Zerstörungskraft heimgesucht hatten – nach den Erfahrungen des zweiten Weltkriegs ein historisch gewachsenes und konstitutionell verankertes Selbstverständnis.
Trotz alledem bilden sich in Europa Zellen des Widerstandes – brodelnde Blasen nationalistischer Sturheit und ausufernder Missgunst, die derzeit das europäische Ideal bedrohen. Ein Ideal, welches in der Europahymne nach Peter Diem zum Ausdruck kommt, der Beethovens ‚Ode an die Freude‘ mit den folgenden Zeilen vereint:
„Unser Herz schlägt für Europa
Und wir stehen dafür ein,
Dass dem Erdteil es gelinge,
In der Vielfalt eins zu sein.“
„Ewig währen in Europa
Friede und Gerechtigkeit,
Und die Freiheit seiner Völker
Sei verbrieft auf alle Zeit.“
In seiner zunehmenden Distanz zu solchen stärkenden, wenn auch schlichten Gefühlen, hat sich Großbritannien mit einem narzisstischen Virus angesteckt, der sich sowohl in der Entstehung der UK Independence Party, als auch einem reaktionären Flügel innerhalb der konservativen Partei äußert. Diese sind zu gleichen Teilen beflügelt vom geistesgeschichtlichen Erbe einer unheilvoll rückwärtsgewandten Zeit, in welcher es keinen Grund gab, „Jonny Foreigner“ zur Kenntnis zu nehmen.
Eine der lautesten Stimmen aus dem Lager derer, die bereits Schlange stehen, um ihr angeblich geliebtes Land aus den garstigen Fängen Europas zu befreien, ist Boris Johnson, der ehemalige Bürgermeister von London, derzeitiger Abgeordneter von Uxbridge und, seinem Bestreben nach, zukünftiger Premierminister von Großbritannien.
Aus seiner Sicht untergräbt Europa die britische Hoheitsgewalt und damit auch seine eigene Macht. Er und der Rest des Brexit-Lagers wollen ihre Nachbarn nicht lieben – sie wollen die Scheidung.
Boris Johnson wird von der rechtskonservativen Presse gerne zu einer Art von ‚nationalem Kulturgut‘ heraufstilisiert. Er hat ein stümperhaft stürmisches, in gewisser Weise exzentrisches Auftreten, das manche liebenswert, andere anstrengend finden. Um seinen Humor ist es nicht anders bestellt: seine Scherze auf eigene Kosten wirken wahlweise einnehmend oder berechnend.
Johnson gibt offen zu, dass diese Form der Selbstironie nur eine manipulative Posse ist, die potentielle politische Widersacher entwaffnen soll. In einem Interview mit dem amerikanischen TV-Sender CNBC erklärte er:
„Selbstironie ist ein raffiniertes Mittel … es geht darum zu verstehen, dass Politiker in den Augen der Leute ohnehin nur ein Haufen Ganoven sind, also muss man sich in diesem Sinne verständlich machen … darum dreht es sich, könnte man sagen.“
Doch Johnson erniedrigt sich mit gutem Grund. Die nachfolgenden Zitate sollten ausreichen, um das Weltbild zum Ausdruck zu bringen, das dieses „nationale Kulturgut“ verkörpert, welches die Regierungspartei zur Kultfigur gemacht hat und dafür dankt, dass er ihr ein neues Image verpasst hat – war sie doch für viele nur noch die „Ekelpartei“.
Diesem propagandistischen Projekt abträglich ist allerdings der Umstand, dass Johnson der Partei seinen eigenen, nicht zu vernachlässigenden, Anteil an Widerwärtigkeit beisteuert. So ist er beispielsweise davon überzeugt, dass Rassismus völlig „natürlich“ ist. Auf einem Besuch in Uganda sagte Johnson sichtlich erfreut zu den UN-Mitarbeitern und ihrem afrikanisch-stämmigen Fahrer: „Lasst uns doch noch ein paar Negerlein anschauen“, wobei er diesen Ausdruck im gleichen Sinne gebrauchte wie Enoch Powell in seiner berüchtigten „Rivers of Blood“-Ansprache gegen Immigration in den sechziger Jahren.
Des Weiteren vergleicht Johnson chinesische Arbeiter mit „schnaufenden Kulis“ und befürwortet eine Rückkehr des Kolonialismus nach Afrika: „Auf sich allein gestellt“, so Johnson, „könnten sich die Eingeborenen auf nichts anderes als auf die tafelfertigen Kohlenhydrate in ihren Kochbananen verlassen.“ „Das Problem besteht nicht darin, dass wir früher dort die Geschäfte leiteten, sondern darin, dass wir es nicht mehr tun.“
In seiner Funktion als Redakteur von The Spectator war Johnson erfreut darüber, die Texte des griechischen Playboys „Taki“ zu publizieren, in denen dieser hässliche Tiraden über „Bongo-Bongo-Land“ , Westinder, die sich „wie Fliegen vermehren“ , „schwarze Schlägertypen“, die die Wurzel der sozialen Probleme in Großbritannien sind und eine „jüdische Weltverschwörung“ vom Stapel lässt. Im Verlaufe letzterer bezeichnete sich Taki dabei selbstzufrieden als ein „sogenannten Antisemit“ .
Anstatt Taki für seinen unverhohlenen Rassismus zu feuern oder sich ihn sogar selbst zur Brust zu nehmen, hat Johnson im Oktober 2000 eine Party zur Feier seiner „25 glorreichen Jahre“ als Kolumnist beim Spectator geschmissen.
Johnsons Sexismus steht seinem Rassismus allerdings in nichts nach: „Die Tussis aus der Finanzverwaltung von GQ – und warum zur Hölle sollte man für GQ schreiben, wenn man sie nicht Tussis nennen darf.“ Für seine Leser beim Spectator behauptet er den „Geilometer“ erfunden zu haben – „der Geigerzähler, der gutaussehende Frauen aufspürt“. In den Worten eines Mitarbeiters: Johnson zum Redakteur zu machen war so als hätte man „einem Affen eine Ming-Vase anvertraut“.
Johnson hat in der Vergangenheit Konzepte zur erneuerbaren Energie belächelt und sich offen gegen das Kyoto-Protokoll zum Klimaschutz ausgesprochen. Er hat den homophoben Gesetzentwurf der Konservativen, der unter dem Namen Sektion 28 bekannt ist, unterstützt, und verglich die eingetragene Lebenspartnerschaft mit der Hochzeit von „drei Männern und einem Hund“ Während die Straßen Londons von Obdachlosen gesäumt sind, treiben die Superreichen beim Versuch, ihren Reichtum zu mehren, die Grundstückspreise immer weiter nach oben. Unterstützt wurden sie dabei von ihrem Bürgermeister Boris Johnson.
„Wir sollten den Superreichen demütig danken, anstatt sie zu verleumden“, verlautbarte Johnson und stellte sich an die Seite der „sehr, sehr Reichen“, bei denen es sich in seinen Augen um eine „schwer belastete Minderheit“, vergleichbar mit Obdachlosen und Zigeunern, handelt.
Diese „Zillionäre“, schreibt er, „haben fast überall Leute, die ihnen jeden Wunsch von den Augen ablesen: Leute, die ihr Auto fahren; Leute, die ihre Kleider abholen; Leute, die ihre Schläfen mit Parfüm einreiben und Leute, die für sie Kupferstiche von Edward Munch bei Christie‘s ersteigern“.
Johnson zeigt sich sichtlich beeindruckt von gigantesken Vermögen und hält Missgunst für völlig verfehlt – vielmehr sollten wir seiner Ansicht nach, den Reichen unseren „herzlichsten Dank“ entgegenbringen, da das oberste Prozent der Verdienenden 29,8 Prozent der Einkommenssteuer abtrete. Sie seien es, „die für das Einkommen jener Familien sorgen, die ohne die Ausgaben der Reichen für teure Sportwagen und Schläfenreiber keinen Brotverdienst hätten.
Bernie Sanders argumentiert hingegen, dass „etwas grundsätzlich falsch läuft, wenn die oberen 0,1 Prozent über fast so viel Wohlstand verfügen wie die unteren 90 Prozent und wenn 99 Prozent von allem neu generierten Einkommen an die oberen 1 Prozent fließt“.
Falls sein diametraler Gegenspieler Boris Johnson an überhaupt irgendetwas glaubt, dann an eine von Eliten beherrschte, von Gier getriebene und vom Klassensystem geplagte Wirtschaft.
Conrad Black, der Inhaber des Spectators bezeichnete Johnson zu seiner Zeit als Redakteur mit den Worten „unbeschreiblich heuchlerisch“ und es ist erwiesen, dass ein gerüttelt Maß des Gespötts auf Europa in der britischen Klatschpresse auf Johnson und seine lange Karriere als rechtskonservativer Journalist zurückzuführen ist. Noch immer führt er in seiner Brexit-Kampagne haltlose Anschuldigungen gegen Europa ins Feld. So hat er beispielsweise vor kurzem erst behauptet, dass Bananen per EU-Legislatur ausschließlich im Dreierpack verkauft werden dürften. Er fungiert hierbei als Sprachrohr für eine krude Anti-Europa-Ideologie, die er unter Zuhilfenahme frei erfundener Lügenmärchen propagiert.
„Zuerst zwingen sie uns, unsere Steuergelder in griechische Olivenwälder zu stecken, die es wahrscheinlich nicht einmal gibt, und dann verbieten sie uns, unser Brot in Restaurants in Olivenöl zu tunken. Wir sind diesem gemeinsamen Markt nicht beigetreten, um uns vorschreiben zu lassen, wann, wo und wie wir das Olivenöl zu essen haben, zu dessen Subventionierung man uns verdonnert hat.“
Wenn Johnson behauptet, dass die EU den Briten verboten hat, Teebeutel zu recyceln, dass Kinder unter acht Jahren keine Luftballons mehr aufblasen dürfen, dass die Größe von Särgen in der EU vorgeschrieben ist und, dass derlei und andere Regulationen Großbritannien 600 Millionen Pfund am Tag kosten, dann ist das schlicht und ergreifend gelogen.
In die Karten spielte Johnson auch der Sunday Telegraph mit seiner haltlosen Panikmache unter dem Titel „Delors Plan, Europa zu beherrschen“. Die größte Horrorvorstellung in der derzeitigen Situation in England ist aber der Gedanke daran, dass Johnson, dieses Überbleibsel aus einem dunklen Zeitalter, vielleicht schlussendlich die Macht bekommt, nach der er sich so sehnt. Schon als Bürgermeister hat Johnson die Skyline Londons dauerhaft verschandelt und den grotesken Plan angestoßen, Bunhill Fields, letzte Ruhestätte des Dichters William Blake und seiner Frau Catherine, dem Vandalismus preiszugeben.
Man kann nur hoffen, dass sowohl seine Kampagne, wie auch seine Ambitionen ins Leere laufen.