/Kommentare/Schweigen für Geld – korrumpierte Physik

Schweigen für Geld – korrumpierte Physik

Albert Einstein repräsentiert wie kein anderer die europäische, naturphilosophische Forschungstradition, die der Frage nachging, was die Welt im Innersten zusammenhält. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde sie jedoch korrumpiert, wie der Physiker Alexander Unzicker in seinem Buch eindrücklich darlegt: Die europäische Physiktradition der naturphilosophischen Reflexion wurde nach dem Krieg ersetzt durch eine Forschungskultur, in der das größte, teuerste und mächtigste zählt. Die Atombombe wurde zu einem Symbol dafür, wie sich Grundlagenwissenschaft von Macht korrumpieren ließ. Die langfristigen Folgen jenes zu oberflächlichen Denkens, das heute „westliche“ Kultur genannt wird, tragen wir heute alle: Von technischen Errungenschaften gleichsam überrollt, vermögen wir unsere Erkenntnisse weder zum Wohl der Menschheit einzusetzen noch den existenziellen Fragen nachzugehen, die vor 100 Jahren die klügsten Köpfe bewegten.

Für eine Vielzahl der theoretischen Physiker ist es inzwischen vollkommen normal geworden, sich ein ganzes Berufsleben lang mit Dingen zu beschäftigen, von denen sie im Grunde spüren, dass es sich um reine Fiktionen handelt. Diese Unehrlichkeit wird auch nicht damit abgemildert, dass mancher Rechnungen in zehn Dimensionen oder in den ersten 10-35 Sekunden faszinierend finden mag. Gegen die Beschäftigung mit abstrakter Mathematik ohne Realitätsbezug wäre als solche nichts einzuwenden, wenn dies kommuniziert würde und die Öffentlichkeit sich entscheiden könnte, bis zu welchem Grad sie solche Spielereien finanziert, anstatt wirklich grundlegenden Fragen der Natur nachzugehen.

Gerade mathematische Physiker korrumpieren sich in ihren Publikationen oder Anträgen jedoch oft durch den Hinweis auf die mögliche Anwendung in der Physik, obwohl sie genau wissen, dass es sich um ein Feigenblatt handelt. Für jeden mit Grundkenntnissen in der Wissenschaftstheorie ist der fehlende Bezug zum Experiment und damit die fehlende Falsifizierbarkeit ein offensichtlicher Beleg, dass es sich nicht um anständige Wissenschaft handelt. Deswegen wurden in den letzten Jahren sogar Versuche unternommen, die auf Karl Popper basierende Wissenschaftstheorie so umzuschreiben, dass sie endlich die Beschäftigung mit derartigem Unsinn erlaube. Inzwischen werden Vorträge darüber gehalten, ob man Theorien auch »nicht-empirisch« bestätigen kann, und es finden Konferenzen darüber statt, wo man allen Ernstes diskutiert, wie man in Zukunft ohne das beschwerliche Kriterium der Evidenz auskommt: eine Renaissance der Mythologie, die sich immer noch Physik nennt.

Diese offenkundige Perversion der Methodik wirkt sich über die Wissenschaft hinaus nachteilig aus. Wenn nicht einmal mehr dort wirksame Abgrenzungen gegen Irrationalität existieren, ist der Erosion der modernen Gesellschaft durch jedwede Ideologie Tür und Tor geöffnet. Der Verzicht auf Evidenz erinnert im Übrigen an die Betrugsmaschen in großem Stil des Wirtschafts- und Finanzsystems, die durch entsprechende Lobbytätigkeit in der Gesetzgebung ja auch schon oft legal geworden sind. Nassim Taleb bezeichnet in seinem Bestseller Der Schwarze Schwan dieses Auseinanderfallen von Ethischem und Legalem als ein Kennzeichen der Moderne. Es scheint, dass in der Moderne institutionalisierte Forschung und Wahrheitssuche ebenso weit auseinanderfallen.

Der durchschnittliche Wissenschaftler von heute ist zu angepasst, selbst wenn er sich mit vernünftigen Dingen der angewandten Physik beschäftigt. Vermeintlich objektiv äußert er sich nicht über sein Fachgebiet hinaus, obwohl er insgeheim viele Theorien auch für Unsinn hält. Der Verlust der Wahrhaftigkeit wird besonders deutlich, wenn man Unterhaltungen von Experimentalphysikern zu Theorien wie Superstrings oder kosmischer Inflation beiwohnt. Jeder weiß, dass dies keine seriöse Wissenschaft ist. Dennoch wird tunlichst vermieden, es öffentlich oder gar in Forschungsanträgen auszusprechen. Denn das Platzen der Spekulationsblase in der theoretischen Physik würde unter anderem die baufälligen Modelle in den Abgrund reißen, mit denen die Hochenergiephysiker ihre ­Beschäftigung rechtfertigen. Die Erfahrung vieler Senior Scientists besteht oft im verbalen Umschiffen dieser Klippen und im Beherrschen der irreführenden Darstellungen, die banale For­schungs­tätigkeit als revolutionäre Einsicht verkauft. Letztlich handelt es sich um eine offen praktizierte, fast selbstverständlich gewordene intellektuelle Korruption.

So wie es dem Verbraucher an Macht, Geld und Einfluss fehlt, sich gegen die groß angelegte, legale Korruption in Wirtschaft und Politik zu wenden, so profitieren die Strukturen in der Wissenschaft von der Uninformiertheit der Öffentlichkeit darüber, was Forscher eigentlich tun. Außer inzwischen professioneller Werbung aus den Presseabteilungen der Big-Science-Institutionen gibt es dabei auch wenig, was dem Normalbürger Orientierung oder gar Transparenz verschaffen könnte. So, wie die politischen Eliten durchaus insinuieren, das Volk sei zu dumm, manche Dinge zu entscheiden, schützt sich die Spitzenforschung vor unangenehmen Fragen gerne mit dem Argument, die Nicht-Experten seien zu dumm, diese zu verstehen.

Wer auch immer Zweifel an dem Sinn des nächstgrößeren Milliardenbeschleunigers anmeldet, ist per definitionem inkompetent. Nicht-Stringtheoretiker können keine qualifizierte Meinung über Stringtheorie äußern. Keinesfalls darf die Teilchenphysik von jemandem kritisiert werden, der nicht jahrzehntelang von ihren Glaubenssätzen gehirngewaschen ist. Vermutlich ist die Zeit nicht fern, in der eine Abweichung von der Mehrheitsmeinung der Kosmologen als verschwörerische Fake-News gebrandmarkt wird …

Die theoretische Physik hat sich verrannt. Doch lässt sich der Zeitpunkt des Platzens einer Blase schwer vorhersagen. In diese wurde nicht nur materiell investiert, sondern viele haben ihre professionelle Existenz darauf aufgebaut, was enorme psychologische Widerstände hervorruft. Es ist nicht leicht, sich einzugestehen, dass man das ganze Berufsleben einer Fata Morgana aufgesessen ist. Aber auch die Ehrlichkeit gegenüber sich selbst lässt zu wünschen übrig. Die Sunk Cost Fallacy verhindert zuverlässig die Einsicht, dass das bisher Investierte verloren ist. Das Ende dieser fehlgeleiteten Forschungstätigkeit, das früher oder später naht, lässt sich daher weniger mit einem Kurseinbruch an den Aktienmärkten vergleichen als mit einem Zusammenbruch des ganzen Finanzsystems.

 

Alexander Unzicker

Alexander UnzickerDr. Alexander Unzicker ist theoretischer Physiker, Jurist und promovierte in der kognitiven Psychologie. Sein Buch "Vom Urknall zum Durchknall" (Springer Verlag), über den Zustand der modernen Physik wurde als "Wissenschaftsbuch des Jahres" gekürt und erschien in den USA unter dem Titel Bankrupting Physics (Macmillan). Neben seiner Vortrags- und Forschungstätigkeit betreibt Unzicker auch den YouTube-Kanal Real Physics, der der Diskussion grundlegender Fragen gewidmet ist, unter anderem auch mit Interviews von Nobelpreisträgern. Bei Westend erschien zuletzt sein Buch "Wenn man weiß, wo der Verstand ist, hat der Tag Struktur" (2019).

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