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Schilderguerilla – ein Bild lügt mehr als tausend Worte

Die Anfänge der Schilderguerilla reichen – in meinem Fall – bis zur Mitte der 1970er Jahre zurück, die Zeit des Kampfes gegen den Konsumterror, als sich dicke Filzschreiber als ideales Sabotagemittel gegen Werbeplakate profilierten. Ein einziger Strich mit dem schwarzen Filzer genügte, um das strahlende Lächeln einer waschmittelsüchtigen Hausfrau in eine Karikatur zu verwandeln: Zahnlücke!

Ebenso schnell ließen sich mit schielenden Augen, Bärten oder dem Quadratbärtchen des Führers Wahlplakate verwüsten, jedenfalls solche, die es unserer Ansicht nach verdient hatten.

1978 ging ich nach San Francisco und das Spielchen übertrug sich auf Ansichtskarten. Mit einem Skalpell ließ sich auf diesen die Farbschicht abschaben und eine weiße Fläche freilegen, die sich gut für Sprechblasen eignete. Auch UFOs ließen sich so ins Bild schmuggeln, Aliens und Raketenschweife. Einige dieser so vandalisierten Postkarten sind am Anfang dieses Buches zu sehen, aber die meisten sind verschickt worden und verschwunden.

Mit dem Einmarsch von Digitalkamera und Photoshop in mein Dasein wechselte dieses Hobby in den digitalen Bereich und verband sich mit meiner Neigung zu Wortspielen. Im Pergamonmuseum drängte sich mir sofort die Assoziation Pergamentmuseum auf. Auch Karl Valentin gehört zu meinen Anstiftern, besonders mit seiner Kunst, Wörter beim Wort zu nehmen. So sehe ich zum Beispiel ein Leihhaus mit anderen Augen als ein „normaler“ Passant, und eine Bank ist für mich nicht unbedingt nur zum Einzahlen da.

Eine Vielzahl der Bilder ist in Berlin entstanden, Handyfotos auf Spaziergängen oder beim Einkaufen. Beim Anblick von Ladenschildern, Verkehrsschildern oder Werbeplakaten sprang oft schon ein Zündfunke über. Um ein eher simples Beispiel zu nennen: Aus „Indisches Restaurant“ ließ sich leicht ein „Kindisches Restaurant“ machen. War die Idee da, achtete ich darauf, daß alle benötigten Buchstaben vorhanden waren. War das nicht der Fall und ich fand die Idee der Mühe wert, konstruierte ich die fehlenden Buchstaben zuhause im Computer.

Auch Protest spielt eine Rolle, etwa wenn es um die Warnhinweise auf Tabakwaren geht, die ich im Prinzip für sinnvoll halte. Aber warum sind diese nur auf Zigaretten beschränkt? Wo sind die Warnungen vor den Gefahren des Alkohols? Warum tauchen sie nicht im Zusammenhang mit der Autoindustrie auf, die uns einen Abgasskandal nach dem anderen liefert? Was ist mit den teils sehr riskanten Produkten der Pharmakonzerne und den extrem gefährlichen der Rüstungsindustrie? Was mit Lebensmitteln im Zusammenhang mit Genpfuscherei und Insektiziden?

RTEmagicC_Warnhinweise

Gern nehme ich auch die Politik aufs Korn, das leere Gerede und die Arroganz von Spitzenpolitikern, die schamlose Bespitzelung der Bevölkerung, die zunehmende Macht von Konzernen, die Ungeheuerlichkeiten wie Wasserprivatisierung durchsetzen wollen, und gnadenlose Ausbeutung ihrer „Mitarbeiter“ betreiben.

Aber bloßes Anprangern und Kritisieren ist nicht mein Ding. Ich will die Leute zum Lachen bringen und auf diesem Umweg zum Nachdenken. Entscheidendes Kriterium für mich ist, dass ich selbst lachen muss, etwa, als ich in Schöneberg auf das Schild „160 m2 Loft zu vermieten“ stieß.

Sie schrecken vor nichts zurück ...

Sie schrecken vor nichts zurück …

Das war wirklich einfach zu machen und ein netter Seitenhieb gegen rücksichtsloses Gewinnstreben.

Doch es muss nicht immer einen tieferen Sinn haben. Ich habe einfach ein Faible für Kalauer und Wortblödelei, für Kinderspülplätze und Lügewiesen, Kleptotheken und Schlagzeilen wie „Sandsturm verwüstet Sahara!“.

Die Schilderguerilla war und ist eine Nebenspielerei, während ich Comics und Cartoons zeichne oder ernsthafte Bücher schreibe. Veröffentlicht habe ich die vandalisierten Fotos bisher nur auf Facebook, wo sie inzwischen aber eine Menge Liebhaber gefunden haben. Daher also jetzt diese haptische Buchausgabe in 2D und Print-O-Color.

Gerhard Seyfried

Gerhard SeyfriedGerhard Seyfried lebt seit 1976 in Berlin, das seither den Hintergrund seiner Comics und Cartoons bildet. Seine Geschichten sind in der linksalternativen Hausbesetzerszene angesiedelt und erzählen von Bullen, Bonzen und Berlinern. Der Tagesspiegel schreibt über Seyfried, dass er für das linke Milieu ähnlich bedeutsam ist, wie es Loriot für das Bürgertum war. Sein gleichermaßen intellektueller wie aggressiv- liebevoller Humor wurde anderen Zeichnern zum Vorbild, und seine Arbeiten fanden weltweit Aufnahme in Publikationen und Ausstellungen.

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