Rückkehr nach Braunau
Schwer genug, wenn man in Braunau am Inn zur Welt kommt. Noch schwerer wiegt für Henning Burk, dass er es nie vermochte, seine Mutter über ihren Einsatz als Reichsangestellte zu befragen. Sie schwieg und sprach weder über Braunau noch über ihr Verhältnis zum „größten Sohn der Stadt“: Adolf Hitler. Und dann gibt es da noch die Urgroßmutter, die Hitlers Hebamme war, ein bis heute schweres Familienerbe. Henning Burk macht sich erst nach dem Tod der Mutter auf die Suche nach der Wahrheit und offenbart in diesem Buch exemplarisch die Verstrickungen, in die seine Mutter in Weißrussland geraten war und deren Ursprung in Braunau zu finden ist.
Aus meinem Beruf als Filmemacher weiß ich, dass sich das Wesen einer Stadt leichter ergründen lässt, wenn man sie nicht kennt und mit ihr nicht verbunden ist. Die Stadt, in der man aufgewachsen ist, lässt sich nur schwer beschreiben. Die darin wohnenden Menschen sind einem zu nah. Man scheut das offene Wort.
Ich bin in Braunau am Inn geboren und habe die Stadt erst kennengelernt, als ich fünfzig Jahre alt war. Meine Mutter hat mir nie Auskunft über ihr Leben dort gegeben. Erst nach ihrem Tod traute ich mich hinzufahren. Da lebten meine Großeltern und Tanten nicht mehr. So konnte ich unvoreingenommen meine Geburtsstadt und das, was dort von meiner Verwandtschaft noch übrigblieb, kennenlernen.
Obwohl Braunau für mich lange unbekannt war, ging von dieser Stadt immer eine unerklärliche Anziehungskraft aus. Das lag daran, dass mir mein Vater schon früh – nicht ohne einen gewissen Stolz – von Braunau erzählte. Meine Urgroßmutter sei die Hebamme von Adolf Hitler gewesen und habe jahrelang als Haushältern bei dessen Eltern gearbeitet. Meine beiden Großonkels Willi und Rudi seien in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts berühmte „Medien“ gewesen. In ihren berühmten okkulten Séancen wären Dinge fernbewegt und Körperteile erzeugt worden. Das sei alles wissenschaftlich überprüft.
In Braunau erfuhr ich, dass mein Urgroßvater fünfzig Jahre lang die 1882 gegründete Braunauer Wochenzeitung Die Warte am Inn gesetzt und gedruckt hat. Die Lektüre schockierte mich: Ein katholisches, antisozialdemokratisches und antisemitisches Hetzblatt, Nährboden für die Begeisterung, die 1938 dem „größten Sohn der Stadt“ entgegenströmte. Beim Anschluss an das „Großdeutsche Reich“ erglühte Braunau im Stolz. Der Führer überschritt in Braunau die Grenze zu Österreich.
Nach der grenzenlosen Hitlerverehrung kam 1945 der abgrundtiefe Fall. Wie ein Fluch hängt seitdem der Schatten des gefallenen „Messias“ über Braunau. Die meisten Menschen, die ich in Braunau auf Hitler ansprach, reagierten gereizt. Das Thema hinge ihnen zum Hals heraus. Auch Fragen nach seiner Familie kamen nicht gut an. Tante Gitti, die ich ausfindig machte, reagierte bereits am Telefon schroff: „Du bist der Sohn von der Lola? Bin nicht interessiert.“ Mich ließ diese Reaktion nicht kalt. Sie steigerte meine Neugier.
„Mein Mann will nicht, dass ich in der Vergangenheit meiner Familie nachforsche“, sagte eine Geschäftsfrau zu mir, als ich sie in einem Straßencafé ansprach. Auf die Frage, was denn ihre Familie im Dritten Reich so gemacht habe, hielt sie sich gestenreich mit beiden Händen nacheinander Augen, Ohren und Mund zu und sagte dann lächelnd: „Mein Großvater und meine Großmutter waren in Schwertberg. Der Ort direkt neben Mauthausen.“ Und wie zur Bestätigung einer Ahnung, die in mir aufstieg, sagte sie: „Die Großmutter hat den Häftlingen Seife und Handtuch gegeben.“ Was sie nicht sagte: „… auf dem Weg ins Gas!“ Diese Haltung war mir nicht unbekannt. Sie hatte etwas von Sündenstolz. Man hat sich selbst nicht schuldig gemacht, aber man ist mit den Tätern verwandt.
Im Gegensatz zu dieser sechzig Jahre jüngeren Geschäftsfrau sprach meine Mutter nie über die Zeit des Nationalsozialismus. Ich wusste schon länger, dass sie sich 1942 freiwillig für den Osteinsatz in Weißrussland gemeldet hat. Der Vater erzählte mir von einem Dokument, das meine Mutter in Braunau bei einer Freundin versteckte und Protokolle schrecklicher Kriegsverbrechen enthielt. Als ich Einblick in das Dokument forderte, erhielt ich zur Antwort: „Ich glaube, ich habe alles verbrannt. Ich will auch nicht, dass alles breitgetreten wird.“
Erfreulicher war die Begegnung mit dem Inhaber eines Zeitungs- und Zigarettenkiosk in der Nähe des großen Braunauer Stadtplatzes. Voller Stolz verkündete dieser mir: „Braunau? Das ist das antifaschistische Zentrum Europas.“ Tatsächlich ist man in Braunau bemüht, sich einen aufgeklärt-proeuropäischen Anstrich zu geben. Schon 1996 bemerkte ich den großen unbehauenen Granitbrocken vor Hitlers Geburtshaus, auf dem eingemeißelt steht: „Für Frieden, Freiheit und Demokratie. Nie wieder Faschismus. Millionen Tote mahnen.“ Der Granit stammt aus dem Steinbruch des KZ Mauthausen. Von den rund hunderttausend dort ermordeten Menschen fanden die meisten beim Abbau solcher Steine den Tod. Einmal im Jahr findet vor dem Gedenkstein eine Mahnveranstaltung statt, an dem alle Parteien außer der FPÖ teilnehmen. Außerdem finden seit 1993 jedes Jahr im Herbst die „Braunauer Zeitgeschichtstage“ statt, die Aufklärung zu den immer noch geisternden Mythen der Vergangenheit schaffen sollen.
Die Aktualität der Verbrechen, die die Nazis begingen, wurden mir deutlich, als ich in einem alten Brief einer Freundin an meine Mutter las: „Ich habe in letzter Zeit so oft an Dich gedacht durch den Golfkrieg. Ist es nicht schrecklich? Die Slonimer Zeit wurde wieder so wach. Hoffentlich ist es bald zu Ende. Die armen Menschen.“ Der Brief war mit 27. Februar 1991 datiert. Ich recherchierte und stellte fest, dass in der Nacht vor diesem Datum britische und US-Kampfflugzeuge die Straße von Mutlaa (Kuwait) nach Basra (Irak) mit Napalm- und Streumunition bombardiert hatten. Amerikanische Marines hatten die Autobahn, auf der irakische Truppen und Zivilisten bereits auf dem Rückzug aus Kuwait waren, mit Minen abgesperrt. Tausende Menschen wurden bei diesem „chirurgischen Eingriff“, wie General Schwarzkopf derartige moderne Angriffe medienwirksam nannte, verbrannt.
1943/44 arbeitete meine Mutter als Sekretärin beim Gebietskommissar Gerhard Erren in Slonim (Weißrussland). Erren hatte sich 1941/42 mit der Ermordung zigtausender Juden gebrüstet. Erst aus der Lektüre der Prozessakten gegen Erren, die ich im Bundesarchiv Ludwigsburg sah, wurde mir klar, dass die Vernichtung des Restghettos von Slonim, das inmitten der Stadt lag, im Spätherbest 1943 stattfand. Meine Mutter muss das Geschehen mitbekommen haben. Die Hamburger Staatsanwaltschaft bat sie, in dem Prozess gegen Erren als Zeugin aufzutreten. Das tat sie nicht. Die Geschehnisse hatten sie zu einem verängstigten Menschen gemacht.
Ein Mittäter dieses schrecklichen Massakers, den die Amerikaner nach dem Krieg festgenommen haben, gab – vermutlich unter Folter – zu Protokoll, dass eine Polizeitruppe bei dieser letzten „Juden-Aktion“ in Slonim das Ghetto angezündet und zehntausend Juden „umgelegt“ habe. „Alle Juden, die aus dem Ghetto zu fliehen versuchten, wurden sofort erschossen, alle anderen aus den Häusern getrieben und dann erschossen oder innerhalb der Hauser vernichtet.“ –„Besonders sadistische Leute schossen Leuchtpatronen in die lebenden Juden, die große kolossale Verwundungen hervorriefen. In der vorhergehenden Nacht wurden Frauen von der Polizei missbraucht und dann ebenfalls erschossen. Die Polizisten prahlten darüber, wie viele Frauen sie auf diese Art und Weise benutzt haben, und suchten sich zu überbieten.“
Im Kreis Braunau gab es einen katholischen Bauern, der aus Gewissensgründen erst gar nicht in den Krieg gezogen war. Er hieß Franz Jägerstätter aus dem Dorf St. Radegund. Anfang 1943 verweigerte er den Kriegsdienst und wurde im Herbst desselben Jahres hingerichtet. Als der sozialdemokratische Bürgermeister von Braunau Mitte der 90er Jahre auf dem Braunauer Stadtplatz einen Brunnen zum Gedenken an Franz Jägerstätter errichten lassen wollte, gab es einen Proteststurm. Ich berichtete damals darüber im Fernsehen. „Mein Vater musste in den Krieg ziehen“, sagten viele bei einer Straßenumfrage. „Der bekommt keinen Brunnen.“ Die Folge: Das Brunnenprojekt wurde abgeblasen. Es wurde auch keine Straße nach Jägerstätter benannt. Nächstes Jahr kommt der Hollywood-Film „Radegund“ von Terrence Malick in die Kinos.
Je tiefer ich die Seele der Kleinstadt Braunau auslotete und die Geschichte Oberösterreichs kennenlernte, desto kurioser wurde es. Ob es sich um den nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Dichterstein handelt, mit dem über fünfhundert deutschnationale Schriftsteller geehrt werden, aber kein einziger jüdischer, oder den Okkultismus, den meine Braunauer Verwandtschaft in zahllosen Séancen glaubhaft machen wollte und so selbst Geistesgrößen wie Thomas Mann von der Realität des Übersinnlichen überzeugten – ich lüftete die unglaublichsten Mythen. Sogar die katholische Kirche entblödete sich nicht, einem einfachen Bahnangestellten zu glauben, der vorgab, eine Technologie entwickelt zu haben, um aus der Spannung zwischen Weltall und Erdmittelpunkt grenzenlose Energie zu gewinnen. Selbst Kaiser Wilhelm II. und der Bischof von Linz fielen darauf herein und investierten hohe Geldsummen. Man kann sagen: Der Größenwahn blühte.
Ich werde immer wieder gefragt: „Ist das Hitlerhaus schon abgerissen?“ Warum diese Frage? Kann man Hitler durch einen Abriss seines Geburtshauses entsorgen und auslöschen? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass der Geist Hitlers fortlebt. In meinem Buch habe ich dazu auf Seite 287 geschrieben:
„Wir müssen überall mit Hitler rechnen. Ich spüre ihn. Steht abermals eine Wiedergeburt an? Wie viele Wiedergeburten wird er noch haben? Sein paranoides Wahnsystem scheint unverwüstlich, sagt der vom Priesteramt suspendierte Kirchenkritiker Adolf Holl. Ein paralleles Universum, voll mit Hexenwahn, Rassenwahn, Verfolgungswahn. Steht eine Reinkarnation kurz bevor? In der Türkei zum Beispiel?“
Man muss sich das vorstellen: Die Hälfte der Braunauer hat bei der Bundespräsidentenwahl in Österreich Norbert Hofer von der Freiheitlichen Partei (FPÖ) gewählt. Diese Partei wirbt mit der Parole: „Heimatliebe ehrlich & echt. Die Menschen. Das Land. Unsere Berufung. FPÖ. Die soziale Heimatpartei.“ Klingt harmlos. Wärmt auch das deutsche Herz. Aber ist die FPÖ wirklich nur eine Art argloser Alpenverein? Nein. Diese Partei entspringt deutschnationalem Geist und ist stets bemüht, die Zeit des Nationalsozialismus zu verharmlosen. Bereits 1987 begegnete ich bei den Dreharbeiten zu einem Film über den Anschluss Österreichs Tobias Portschy, seit 1959 Mitglied der FPÖ. Bis zu seinem Tod 1996 blieb dieser ehemalige Gauleiter von Südburgenland ein unnachgiebiger Verfechter der „Rassenhygiene“. In den 30er Jahren hat er sich unermüdlich darum bemüht, die Nürnberger Rassengesetze auch für Sinti und Roma gelten zu lassen. Jörg Haider war sein geistiger Ziehsohn.
Kürzlich waren in Österreich Nationalwahlen. Die FPÖ hat ein Drittel der Stimmen bekommen. Das Ergebnis: Die FPÖ wird mit Sicherheit Mitglied der nächsten Regierung in Österreich.