Rettet den INF-Vertrag! Es gibt keine Gewinner!
Es liegt immer noch in unserer Macht, eine nukleare Konfrontation zu verhindern! Das Schicksal des INF-Vertrags beunruhigt Politiker ebenso wie ganz normale Menschen auf allen Kontinenten – auch Michail Gorbatschow, der einen flammenden Appell zur Rettung des INF-Vertrags verfasst und für das Buch „Frieden! Jetzt! Überall!“ beigetragen hat.
Auch ich mache mir große Sorgen, und das nicht nur, weil ich diesen Vertrag im Dezember 1987 mit dem damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan unterzeichnet habe. Wir erleben zurzeit destruktive und gefährliche Entwicklungen in der Weltpolitik.
Auf dem Weg zur Unterzeichnung des INF-Vertrags hatte Ronald Reagan und mich der Grundgedanke begleitet, den wir in einer gemeinsamen Erklärung beim ersten Treffen in Genf dargelegt haben: „Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen werden und darf niemals geführt werden.“ Der INF-Vertrag war der erste Schritt auf diesem Weg, und ihm folgten weitere Schritte, unter anderem der Vertrag über Abbau strategischer Waffen (START I) und Vereinbarungen, den Großteil aller taktischen Atomwaffen abzurüsten. Beide Staaten haben ihre Militärdoktrinen überarbeitet, um ihre Abhängigkeit von Atomwaffen zu reduzieren und ihre Anzahl gegenüber dem Höhepunkt des Kalten Krieges um mehr als achtzig Prozent zu verringern.
Der begonnene Abrüstungsprozess betraf nicht nur Atomwaffen. Die Konvention zum vollständigen Verbot von Chemiewaffen trat 1997 in Kraft, und die Länder Ost- und Westeuropas einigten sich auf einen drastischen Abbau ihrer Streitkräfte und Waffen. Dies war die „Friedensdividende“, von der alle – vor allem die Europäer – mit dem Ende des Kalten Krieges profitierten. Seitdem diente der INF-Vertrag der Sicherheit unseres Landes und schloss die Stationierung von Waffen in der Nähe unserer Grenzen aus, die zu einem „Enthauptungsschlag“ in der Lage wären.
Ich möchte hier erwähnen, dass auch hochrangige russische Beamte den Vertrag zu Unrecht kritisierten und die Zerstörung der Raketen beklagten, weil diese für uns noch nützlich sein könnten. Ich fühlte mich immer wieder gezwungen, solche Auffassungen zurückzuweisen.
Dennoch hat sich das politische Klima geändert. In den letzten Jahren hat sich Russland klar für die Aufrechterhaltung des INF-Vertrags ausgesprochen. Ich hoffe, dass dies eine tiefe Einsicht in die Notwendigkeit des Vertrages widerspiegelt. Heute jedoch droht die große Gefahr des Zusammenbruchs für alles, was wir seit dem Ende des Kalten Krieges erreicht haben. Die Entscheidung der Vereinigten Staaten, sich aus dem INF-Vertrag zurückzuziehen, würde alle Fortschritte, die mit dem INF-Vertrag erreicht wurden, aufs Spiel setzen. Denn das wäre nur der erste Schritt. Die USA weigern sich weiterhin, das umfassende Verbot von Atomwaffentests (CTBT) zu ratifizieren, und bereits im Jahr 2002 kündigten sie einseitig den Vertrag gegen Raketenabwehrsysteme (ABM-Vertrag) auf.
Von den drei Säulen globaler strategischer Stabilität (ABM-Vertrag, INF-Vertrag und START I) existiert demnächst nur noch ein Abkommen, das vom ehemaligen russischen Präsidenten Dmitri Medwedew und dem ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama im Jahr 2010 unterzeichnet wurde: der New-START-Vertrag. Sein Schicksal steht aber auch auf dem Spiel und nach Aussagen von Vertretern der US-Administration könnte er bald „der Vergangenheit angehören“.
Was ist passiert?
Welche vermeintliche oder tatsächliche Bedrohung zwingt die Vereinigten Staaten, das Rüstungskontrollsystem zur Begrenzung der Atomwaffen, das die Welt seit Jahrzehnten sicherer macht, außer Kraft zu setzen? Schauen wir uns den Wortlaut des INF-Vertrags genau an, so steht darin: „Jede Partei hat bei der Ausübung ihrer nationalen Souveränität das Recht, dann von diesem Vertrag zurückzutreten, wenn sie beschließt, dass durch außergewöhnliche Ereignisse im Zusammenhang mit den Festlegungen dieses Vertrags ihre höchsten Interessen gefährdet werden. Sie unterrichtet den anderen Vertragspartner sechs Monate vor dem Beschluss über den Rückzug von diesem Vertrag. Diese Mitteilung soll eine Darstellung der außergewöhnlichen Ereignisse enthalten, die die anmeldende Vertragspartei als ihre höchsten Interessen gefährdend betrachtet.“
Das heißt, ein Land, das den Schritt zum Verlassen des Vertrages unternimmt, muss der Weltgemeinschaft erklären, warum es sich aus dem Vertrag zurückzieht. Wo aber ist diese Bedrohung der „höchsten Interessen“ für die Sicherheit der USA – eines Landes, dessen Militärausgaben mindestens dreimal so hoch sind wie die aller möglichen Rivalen? Haben die USA der Weltgemeinschaft, der Öffentlichkeit und dem UN-Sicherheitsrat eine Darstellung dieser Bedrohungen mitgeteilt? Nein, das haben sie nicht.
Stattdessen haben sie Beschwerden gegen Russland wegen angeblicher Verstöße erhoben und diese Vorwürfe in Form eines Ultimatums präsentiert. Die USA begründen ihre Position mit dem Hinweis, dass andere Länder – insbesondere China, Iran und Nordkorea – Mittelstreckenraketen besitzen. Dies ist kein überzeugendes Argument. Die Arsenale der USA und Russlands machen immer noch mehr als neunzig Prozent der Atomwaffen der Welt aus. In diesem Sinne sind die beiden Länder tatsächlich immer noch die einzigen atomaren „Supermächte“.
Möglicherweise beruht Washingtons Entscheidung, sich vom Vertrag zurückzuziehen, nicht auf den von der US-amerikanischen Führung angegebenen Gründen, sondern auf etwas ganz anderem: dem Wunsch Washingtons, sich von jeglichen Beschränkungen seiner Waffen zu befreien und eine absolute militärische Überlegenheit zu erreichen. „Wir haben weitaus mehr Geld als jeder andere“, verkündete Präsident Trump kürzlich, „wir werden es [unser Atomarsenal] soweit ausbauen, bis sie zur Besinnung kommen“. Vermutlich wollen die USA erneut aufrüsten, um der Welt ihren Willen zu diktieren. Was könnte es sonst sein?
Das ist jedoch ein illusorisches Ziel, und eine aussichtslose Hoffnung. Es ist unmöglich, dass ein Land in der modernen Welt eine Hegemonie erreicht. Eine solch destruktiver Ablauf der Ereignisse würde zu einem völlig anderen Ergebnis führen: zur Destabilisierung der strategischen Situation der Welt, zu einem neuen Wettrüsten und zu mehr Chaos und Unberechenbarkeit in der Weltpolitik. Die Sicherheit aller Länder, einschließlich der Vereinigten Staaten, würde darunter leiden.
Donald Trump sagte, die USA hofften, „einen neuen Vertrag zu vereinbaren, der viel besser wäre“. Welche Art von Vertrag meint er – einer, der den Ausbau von Atomwaffen fördert? Niemand sollte auf so ein Versprechen reinfallen, ebenso wenig auf die Erklärung von US-Außenminister Mike Pompeo, dass „die USA keine Pläne für die sofortigen Stationierung neuer Raketenwaffen“ haben.
Das bedeutet nur, dass die USA solche Raketen noch nicht haben. Und diese Aussagen konnten die verständlicherweise alarmierten Europäer nicht überzeugen. Jeder erinnert sich an die „Raketenkrise“ der frühen achtziger Jahre, als dort Hunderte von sowjetischen SS-20- und amerikanischer Pershing-Raketen stationiert wurden. Und alle wissen, dass eine neue Runde des Raketenwettlaufs heute noch gefährlicher sein könnte.
Das Ziel muss bleiben: Eine atomwaffenfreie Welt
Ich begrüße die Bemühungen der Länder Europas, den INF-Vertrag zu retten. Die Europäische Union forderte die USA auf, „sich über die Konsequenzen eines möglichen Austritts aus dem INF-Vertrag für ihre eigene Sicherheit, die Sicherheit ihrer Verbündeten und der ganzen Welt im Klaren zu sein.“ Der deutsche Außenminister Heiko Maas, warnte, „eine Beendigung des Vertrages hätte viele negative Konsequenzen“, und reiste nach Moskau und Washington, um eine Lösung für das Problem zu finden. Es ist bedauerlich, dass dieser Vorstoß zu keinen Ergebnissen geführt hat, aber diese Bemühungen müssen fortgesetzt werden – zu viel steht auf dem Spiel.
Diejenigen, die den INF-Vertrag beenden möchten, behaupten, die Welt habe sich seit ihrem Abschluss grundlegend verändert und der Vertrag sei daher einfach überholt. Die erste Hälfte dieses Arguments ist sicherlich richtig, aber die zweite ist zutiefst irreführend. Die Veränderungen in der Welt erfordern nicht, den Vertrag abzuschaffen, der die Grundlagen für die internationale Sicherheit nach dem Ende des Kalten Krieges gelegt hat, sondern weitere Schritte in Richtung auf das vereinbarte Ziel zu unternehmen: die Beseitigung der Atomwaffen. Darauf sollten wir unsere Anstrengungen konzentrieren.
Ich wende mich an alle Amerikaner, insbesondere an die republikanischen und demokratischen Kongressmitglieder. Unglücklicherweise hat die innenpolitische Spaltung der USA in den letzten Jahren zu einem Zusammenbruch des amerikanisch-russischen Dialogs – auch über Atomwaffen – geführt. Es ist an der Zeit, die Gegensätze zwischen den Parteien zu überwinden und ernsthafte Gespräche zu beginnen.
Angesichts des Stilstands der Beziehungen brauchen wir neue Ideen, um sie wieder in Gang zu bringen. Die Experten-Community kann dabei eine wichtige Rolle spielen. In einem vor kurzem in der Rossijskaja Gasjeta und der Washington Post veröffentlichten gemeinsamen Artikel vom ehemaligen US-Außenminister George Shultz und mir forderten wir die Einrichtung eines nicht-staatliches Forums von russischen und US-amerikanischen Experten, um die sicherheitspolitischen Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte zu diskutieren und Lösungsvorschläge für unsere Regierungen zu entwickeln. Es ist von höchster Dringlichkeit, dass Politiker ihr Denken ernsthaft ändern. Militarisierte Denkweisen haben zu militärischen Konflikten sowie zu Interventionen in Jugoslawien, Irak, Libyen und anderen Ländern geführt, deren Auswirkungen noch lange zu spüren sein werden.
Politik, nicht Bewaffnung ist der Schlüssel zur Lösung von Sicherheitsproblemen. Wir müssen die Situation verstehen, wie sie sich entwickelt hat, und vor allem durch Handeln verhindern, dass die Welt in Wettrüsten, Konfrontation und letztendlich Krieg abgleitet. Trotz allem glaube ich, dass wir immer noch die Macht zum Handeln haben.
Dieser Beitrag basiert auf: https://www.themoscowtimes.com/2019/02/05/a-forced-decision-why-the-us-withdrew-from-the-inf-treaty-op-ed-a64406, Übersetzung durch Wolfgang Biermann und Frieder Schöbel.