Quellenschutz – das Herzstück der Recherche
Recherchieren ist keine Kunst, sondern ein Handwerk. Patrik Baab liefert in seinem Buch „Recherchieren“ dafür einen Werkzeugkasten. Werkzeuge sind nur so gut wie der Handwerker, der sie verwendet. Die Leser sind aufgefordert, die Werkzeuge herauszunehmen und zu benutzen. Rechercheure brauchen einen Standpunkt, den Standpunkt der Aufklärung. Ihr Kerngedanke ist die Einhegung von Macht. Dazu gehört Kritik. Denn Kritik ist die Voraussetzung von Demokratie. Ohne Kritik gibt es keine Veränderung. Recherchieren ist deshalb ein oppositionelles Konzept. Rechercheure stehen an der Seite der Benachteiligten und nicht an der Seite der Machteliten. Sie sorgen nicht für ein Gleichgewicht, solange im Machtgefüge der Welt kein Gleichgewicht herrscht. Recherchieren bedeutet, etwas gegen Widerstände herauszufinden – gegen den Widerstand jener, die Aufklärung verhindern und eigene Interessen durchsetzen wollen. Deshalb ist bei jeder Recherche der Quellenschutz zentral.
Am Nachmittag des 17. Juli 2003 verlässt der Biowaffen-Experte David Kelly sein Haus in Southmoor in der Grafschaft Oxfordshire für einen Spaziergang. Als er bei Einbruch der Dämmerung noch nicht zurückgekehrt war, verständigt die Familie die Polizei. Am nächsten Morgen wird er etwa eine Meile entfernt in einem Waldstück tot aufgefunden. Seine Ellenarterie war mit einem Taschenmesser durchtrennt worden. Es wies keine Fingerabdrücke auf. Neben der Leiche lag eine leere Schachtel mit Schmerztabletten. Die in Kelly’s Körper gefundene Menge des Schmerzmittels Coproxamol entsprach etwa einem Drittel der letalen Dosis.
David Kelly war Berater des britischen Verteidigungsministeriums. Er forschte über die Abwehr biologischer und chemischer Kampfstoffe. Als UN-Beauftragter war er an der ersten Kontrollmission im Irak beteiligt. Anfang Juli hatte Kelly ein Hintergrundgespräch mit dem BBC-Journalisten Andrew Gilligan. Es ging um das Dossier der britischen Regierung über irakische Massenvernichtungswaffen vom September 2002, in dem behauptet wird, Saddam Hussein verfüge über einige Massenvernichtungswaffen, die innerhalb von 45 Minuten einsatzfähig seien. Kurz darauf berichtete Gilligan im BBC-Programm Radio 4 Today, diese Behauptung sei auf Drängen von Premierminister Tony Blair’s Spin Doctor Alastair Campbell, dem Kommunikationsdirektor der Downing Street, eingefügt worden – eine Information, die von Kelly bestritten wurde, aber sich später als richtig herausstellte. Kelly’s Name geriet in die Presse, und er musste am 15. Juli 2003 vor zwei parlamentarischen Ausschüssen aussagen.
Bis heute ist umstritten, ob Kelly unter Druck gesetzt und in den Suizid getrieben oder umgebracht wurde. Eine regierungsamtliche Untersuchung durch Lordrichter Brian Hutton bestätigte die von Polizei und Toxikologen präsentierte Selbstmord-Version, entlastete die Regierung und belastete die BBC. Allerdings lassen Obduktionsbericht und toxikologisches Gutachten auch andere Schlussfolgerungen zu. Der liberaldemokratische Abgeordnete Norman Baker zeigte sich überzeugt, dass Kelly im Auftrag irakischer Exilpolitiker ermordet wurde, die in Verbindung mit CIA und MI6 standen.
Unter dem Druck der Regierung erklärte die BBC, dass David Kelly die „Hauptquelle“ für Gilligans Bericht über das frisierte Dossier gewesen sei: „Ein Tabubruch vor laufender Kamera“, so der damalige Vorsitzende des Netzwerks Recherche, Thomas Leif. „Die Intensität des blinden Verfolgungsdrucks illustriert die Bedeutung einer journalistischen Quelle – den Herzstücken des recherchierenden Journalismus… Je wichtiger und bedeutsamer eine Sache für die Öffentlichkeit ist, umso schärfer fallen die ‚Gegenmaßnahmen‘ der Verantwortlichen aus, die unter Rechtfertigungsdruck stehen.“
Wenn man Thomas Leif glauben darf, dann gehört der Quellenschutz ganz oben auf die Liste einer verdrängten berufsethischen Debatte im Journalismus. Der Mitgründer und frühere Redakteur des „Independent“, Andreas Whittam Smith, machte in einem Kommentar zur Kelly-Affäre deutlich, welche Maßstäbe beim Quellenschutz gelten müssen: „Zunächst muss gesagt werden, dass die Identität derer, die vertraulich Informationen liefern, niemals und in keiner Weise diskutiert wird. Ich schlage vor, hier innezuhalten und diesen Satz bis zum Erbrechen zu wiederholen. Der zweite Punkt ist geradeheraus zu sagen: Wenn man mit einer Staatsmacht konfrontiert ist, die das Recht für sich in Anspruch nimmt, eine Offenlegung zu erzwingen, dann soll man lieber guter Laune ins Gefängnis gehen als den Informanten zu präsentieren… Wenn Du Dich in einem Kampf mit dem Staat befindest, ist dies die Regel: Der Staat gibt nichts preis, und Du gibst nichts preis… Ich würde lieber frohgemut ins Gefängnis gehen als den Namen zu nennen.“
Andreas Whittam Smith gibt hier keine guten Ratschläge vom grünen Tisch aus; er weiß, wovon er redet. Er war selbst einmal mit einer Geldstrafe in Höhe von 25.000 Pfund wegen Missachtung des Gerichts belegt worden, weil er eine Quelle nicht preisgegeben hat. Diese Klarheit hat seinen Ruf und seine Autorität als einer der führenden britischen Journalisten ausgemacht. Fortan verfügte er über ausgezeichnete Quellen.
Die Ausweitung und Öffnung des Diskussionsraumes gelingt also auch über den Quellenschutz. Nur, wer sich Andreas Whittam Smith zum Vorbild nimmt, kommt dauerhaft an vertrauliche Informationen heran. Zur Kontrolle der Machteliten sind solche Informationen unverzichtbar. Dies gefällt den Mächtigen im Lande überhaupt nicht. Sie wollen verhindern, dass Journalisten von Whistleblowern auf Missstände aufmerksam gemacht werden. Die Schicksale von Chelsea Manning, Julian Assange und Edward Snowden zeigen, welche Konsequenzen es für Informanten haben kann, wenn sie enttarnt werden. Dem steht ein oft nachlässiger Umgang von Journalisten mit dem Thema Informantenschutz gegenüber. Sie kümmern sich meist schlicht nicht um dieses Thema – und wissen nicht, welche Datenspur sie hinterlassen. Das spielt all denen in die Hände, die etwas zu verbergen haben, und Rechtsbrüche, Gaunereien oder Korruption unter der Decke halten wollen.