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Mutter Blamage oder Die Meisterin des schönen Scheins

Eignet sich Angela Merkel noch als Hoffnungsträgerin für ein gemeinsames, offenes und freies Europa? Oder hat nicht gerade ihre ungerechte Wirtschafts- und Sozialpolitik oder das inhumane Spardiktat, mit dem sie Europa überzogen hat, in den mehr als zehn Jahren ihrer Amtszeit den Aufstieg der Rechtspopulisten und ihrer nationalistischen Heilsversprechen erst möglich gemacht? Eine Analyse von Stephan Hebel, basierend auf seinem Buch „Mutter Blamage und die Brandstifter“.

 Erinnert sich noch jemand? Als das Wahljahr 2013 begann, war Angela Merkel mit Abstand die beliebteste Politikerin Deutschlands. In vielen Medienberichten begegnete sie uns nach sieben Jahren Kanzlerschaft als wenig charismatische, kaum von Prinzipien geleitete, aber umsichtig und pragmatisch handelnde Mutter der Nation. Als nervenstarke Krisenmanagerin und Garantin einer maßvollen Reformpolitik für alle. Als säßen wir auf einer Insel, unberührt von den Konflikten und Problemen dieser Welt, ließ Deutschland sich einschläfern von der beruhigenden Botschaft seiner Kanzlerin: „Deutschland geht es gut.“ Es schien damals auch kaum jemandem aufzufallen, wie nah diese Fixierung auf die nationale Wohlstandsinsel dem Denken war, das wir heute an anderer Stelle als „America first“ kennen und kritisieren.

Am 22. September 2013 entschieden sich 41,5 Prozent der Wählerinnen und Wähler für die CDU/CSU, und nur weil die FDP aus dem Bundestag flog, reichte es nicht für die Fortsetzung der schwarz-gelben Koalition, die von 2009 bis 2013 regiert hatte. Der Rest ist bekannt: Die SPD bot sich der Union als Juniorpartnerin an, und es sah fast so aus, als könnte es ewig weitergehen mit der Illusion: Alles bleibt, wie es ist, und Mutti passt schon auf.

Einen Wahlkampf später, zur Jahreswende 2016/2017, stellte sich die Lage etwas anders dar: Die ewige Kanzlerin lag bei den demoskopischen Beliebtheitswerten hinter dem Sozialdemokraten Frank-Walter Steinmeier, der sich gerade vom Außenministerium verabschiedete, um Bundespräsident zu werden, und SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz schloss (zumindest kurzfristig, wie wir heute wissen) aus dem Stand zur CDU-Vorsitzenden auf. Vor allem aber: Mit der Ruhe im Land war es längst vorbei. Was vier Jahre zuvor fast unvorstellbar gewesen wäre, gehörte nun fast zum Alltag einer in höchste Erregung geratenen Gesellschaft: Auf Straßen und Plätzen ertönte der Ruf „Merkel muss weg“.

Darauf hörte sie natürlich nicht. Ausgerechnet im Moment des heftigsten Gegenwindes aufzugeben, das hätte zu dieser Frau ganz und gar nicht gepasst. (…) Diejenigen allerdings, die jetzt „Merkel muss weg“ skandieren, schreien lauthals an den eigentlichen Fehlern dieser Kanzlerin vorbei. Der wieder auferstandene Rassismus und Nationalismus, gestärkt durch die angeblich so großzügige Flüchtlingspolitik der Regierung, äußert sich nicht nur im Wutgeschrei von Pegida und Co., sondern er rückt scheinbar unaufhaltsam in die Mitte der Gesellschaft vor. Und dabei bleibt fast unbemerkt, dass Angela Merkel ihre eigentliche politische Agenda ungerührt weiter abarbeitet. Diese Agenda ist es – und nicht die einmalige, vorübergehende Grenzöffnung für Flüchtlinge –, mit der diese Kanzlerin seit mehr als einem Jahrzehnt Deutschland blamiert.

Das Erstaunliche ist, dass so viele Menschen die Legende von der unideologischen Pragmatikerin Angela Merkel glauben. Dabei handelt es sich bei dieser (Selbst-)Darstellung um ein permanentes Betrugsmanöver. Die Kanzlerin hat sehr wohl eine politische Agenda – und die ist schlecht für Deutschland. Das gerät allerdings im Jahr 2017 fast noch gründlicher in Vergessenheit als 2013, als die Fehler und  Versäumnisse noch in der Watte des Wohlbefindens verpackt zu sein schienen. Die wirklich schädlichen Inhalte des Merkelismus gehen fast vollständig unter. Dabei sind selbst die Aufregerthemen unserer Tage – der neue Rassismus, die Zuwanderung und die terroristische Gefahr – ohne eine genauere Betrachtung von Merkels Versagen kaum zu verstehen. Nicht, dass die Kanzlerin an allem schuld wäre, selbst am Terror. So einfach ist es nicht. Aber eine Politik der Vorbeugung, die national wie international für mehr Zusammenhalt und Ausgleich sorgen und die Konflikte langfristig eindämmen könnte, hat die CDU-Vorsitzende von Anfang an verweigert. Und daran hat sich nichts geändert. (…)

Das wichtigste Requisit dieser Kanzlerin ist die Tarnkappe. Es scheint, als ordne sie dem Machterhalt jede Überzeugung unter (Fans sprechen lieber von „Pragmatismus“). Hier macht ihr niemand etwas vor, sie ist eine brillante Handwerkerin der Macht. Was dem Machterhalt dient, wird dafür genutzt, ob es nun auf Parteifreunde angemessen konservativ wirkt oder nicht: Hat sie nicht am Ende doch die Banken reguliert? Ist die Wehrpflicht nicht abgeschafft? Gibt es nicht sogar den gesetzlichen Mindestlohn? Und wer, bitte, hat die Energiewende ausgerufen?

Auf den ersten Blick haben Kritiker wie Bewunderer zumindest in einer Hinsicht recht: Aus Merkels Worten irgendetwas Programmatisches abzuleiten, ist oft schwerer, als den berühmten Pudding an die Wand zu nageln. Sie ist Regisseurin und Hauptdarstellerin in einem „Für-jeden-etwas“-Theater der besonderen Art.

Auf den zweiten Blick aber zeigt sich: Sowohl die untertänigen Lobredner und -schreiber als auch die konservativen Kritiker (und erst recht diejenigen, die erst das eine waren und dann das andere) sind der Kanzlerin auf den Leim gegangen. Diese Frau betreibt sehr wohl ein politisches, von klaren ideologischen Wegweisern bestimmtes Projekt. Sie ist allerdings nicht die Kanzlerin für alle, wie ihre Rhetorik uns vorzugaukeln versucht. Sondern sie ist die Kanzlerin des Neoliberalismus. Eine Regierungschefin, die sich ihrerseits regieren lässt von den Interessen der Wirtschaft und des Finanzkapitals. Sie ist übrigens auch nicht die humanitäre Lichtgestalt, für die die halbe Welt sie seit der vorübergehenden Grenzöffnung für Flüchtlinge hält – so erfreulich dieser kurze Moment der Offenheit aus humanitärer Sicht auch war.

In Wahrheit dienen selbst Merkels Zugeständnisse an Sozialreformer und Modernisierer einzig dem Zweck, die Freiheit „der Märkte“ und ihrer Akteure im Kern zu wahren. Die „sozialdemokratischen“ und „grünen Elemente Merkel’scher Politik erweisen sich als taktische Rückzüge mit dem Ziel, unter Vortäuschung falscher Tatsachen auch jenseits des konservativen Spektrums Mehrheiten zu gewinnen. An der generellen Richtung ändern sie nichts. Und die Grenzöffnung vom September 2015 erweist sich bei genauerem Hinsehen auch als Versuch, die restriktive Flüchtlingspolitik durch ein vorübergehendes Nachgeben auf Dauer zu sichern. So erweist sich die immer noch mehrheitsfähige Vorstellung, Merkel repräsentiere die Deutschen nach außen ganz gut und richte nach innen wenigstens keinen Schaden an, als gefährlicher Irrtum: Diese Frau hat Deutschland ihren Stempel aufgedrückt, längst bevor die Flüchtlinge kamen, und sie tut es noch immer. Und wir haben es nicht einmal gemerkt. (…)

Längst ist die Bundesrepublik, allen Erfolgsmeldungen zum Trotz, ein Land im Reformstau. Ein Land, das sich auf Kosten anderer in kleinkariert nationaler Interessenpolitik ergeht und sich damit selbst auf Dauer schadet. Ein Land, in dem die Ungerechtigkeit wächst und die Schere zwischen Arm und Reich sich immer weiter öffnet. Ein Land, das Millionen seiner Bürger in die Armut treibt, mit Arbeit oder ohne. Ein Land, das wichtig tut und ständig an Gewicht verliert. Ein Land, in dem der Souverän – das Volk und „sein“ Parlament – systematisch entmachtet wird. Ein Land, in dem die Politik sich selbst zur Erfüllungsgehilfin ökonomischer Interessen degradiert. Ein Land, das die Verlierer dieser Politik den Rassisten und Populisten praktisch kampflos überlässt.

Stephan Hebel

Stephan HebelStephan Hebel, langjähriger Redakteur der "Frankfurter Rundschau" und politischer Autor, ist seit drei Jahrzehnten Leitartikler und Kommentator. Er schreibt unter anderem auch für Deutschlandradio, "Freitag", "Publik Forum" und weitere Medien. Er ist zudem regelmäßiger Gast im "Presseclub" der ARD und ständiges Mitglied in der Jury für das "Unwort des Jahres".

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