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Merkel: Bilanz und Erbe einer Kanzlerschaft

Was bleibt, wenn sie geht? Wie hat sich unser Land, wie hat sich Europa in der Ära Merkel entwickelt? Hat die scheidende Kanzlerin recht, wenn sie sagt: „Deutschland geht es gut“? Stephan Hebel zieht in seinem neuen Buch die kritische Bilanz einer Kanzlerschaft und kommt zu dem Ergebnis: Hätte Merkel eine andere, sozialere Politik gemacht, ginge es vielen Deutschen und Europäern jedenfalls besser. Er zeichnet am Beispiel zahlreicher Zahlen und Fakten die Spuren nach, die Merkels Neoliberalismus im Leben der Bürgerinnen und Bürger hinterlassen hat – nicht nur in Deutschland, sondern auch etwa in Griechenland, wie sein Kommentar zeigt.

Es war sicher Zufall, aber manchmal sagen eben auch Zufälle etwas aus: Kaum hatte das Jahr 2019 so richtig begonnen, fanden zwei Ereignisse gleichzeitig statt. Bundeskanzlerin Angela Merkel besuchte Griechenland, und am selben Tag wurde bekannt, dass der deutsche Staat allein im Bundeshaushalt erneut einen Überschuss erzielt hatte: 11 Milliarden Euro. Was haben diese beiden Dinge miteinander zu tun? Eine ganze Menge.

Merkel hatte den Ton für ihr Treffen mit dem griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras schon vor der Reise im Interview mit der Zeitung „Kathimerini“ vorgegeben: „Mir ist bewusst, dass die letzten Jahre für viele Menschen in Griechenland sehr schwierig waren“, sagte sie. Der Weg zu finanzieller und wirtschaftlicher Stabilität sei zweifellos steinig. Aber nachdem das dritte und letzte „Hilfsprogramm“ 2018 abgeschlossen worden war,  „ist Griechenland bereits weit vorangekommen. Das sollte Ansporn für die Zukunft sein.“

Vorangekommen? Die Jugendarbeitslosigkeit liegt in Griechenland bei mehr als 35 Prozent. Der Anteil unterernährter Kinder hat sich seit 2008 auf etwa 14 Prozent verdoppelt. Löhne und Renten sind gesunken, der Ausverkauf öffentlichen Eigentums wie Flughäfen oder Häfen ist in vollem Gange.  Das Ende der „Hilfsprogramme“ bedeutet nur, dass Griechenland sich seine Kredite jetzt wieder an den Finanzmärkten holen „darf“ statt bei den europäischen und internationalen Institutionen.

Wer den in Deutschland und der EU vorherrschenden Denkweisen folgt, würde wohl sagen: Griechenland ist wieder „wettbewerbsfähig“ geworden. Das bedeutet in den Worten von Angela Merkel: „Jeder Staat des Euroraums steht in der Pflicht, für Stabilität zu sorgen und notwendige Reformen für seine Wettbewerbsfähigkeit zu ergreifen, und das gilt gerade in wirtschaftlich guten Zeiten.“

Das bedeutet erstens: Es sind die einzelnen Staaten, die sich in Konkurrenz zueinander wettbewerbsfähig zu halten haben, praktisch so, als wären sie Unternehmen. Mit anderen Worten: Europa hat zwar eine gemeinsame Währung, aber eine gemeinsame Wirtschafts- und Sozialpolitik, die eigentlich jeder Währungsraum braucht, hat es ausdrücklich nicht. Zweitens: »Stabilität« gilt dann als erreicht, wenn ein Land auf „den Märkten“ wieder eigenständig Schulden machen kann. Und was mit „Reformen“ gemeint ist, lässt sich am Beispiel der Griechenland-Krise leicht erkennen. Hier wurden die Staats- und vor allem die Sozialausgaben so lange zusammengestrichen, bis das Land wieder als „kreditwürdig“ galt. Die milliardenschweren „Hilfen“ und „Rettungspakete“ der EU (in Wahrheit ebenfalls Kredite) flossen zum überwiegenden Teil in die Stabilisierung der Banken.

Der CSU-Politiker Manfred Weber, Spitzenkandidat der Konservativen bei der Europawahl 2019, drückte es so aus: „Wir sind sehr stabil als Staaten unterwegs. Wir haben auch viel an Reformen auf den Weg gebracht. Ich denke nur an Spanien, an Irland, an Portugal, auch Griechenland, die viel verändert haben, viele Reformen durchgeführt haben.“ Das Ergebnis werden Rentner, Niedriglohnbezieher oder Kranke in Griechenland noch lange spüren.

Deutschland aber, so hören wir es immer wieder, stehe vorbildlich da. Das könne man ja an den Überschüssen sehen, über die das Bundesfinanzministerium während des Griechenlandbesuchs der Kanzlerin berichtete. Was dabei meistens verschwiegen wird: Der deutsche Staat verdankt seine Überschüsse zum großen Teil derselben Krise, unter der die Griechen so schwer zu leiden haben. Um die ökonomisch weniger stabilen Volkswirtschaften halbwegs zu schützen, fährt die Europäische Zentralbank bekanntlich eine radikale Niedrigzinspolitik – was auch für Deutschland die Kreditkosten senkt. Die Deutsche Bundesbank errechnete Anfang des Jahres 2019, dass die öffentliche Hand hierzulande seit der Finanzkrise 2008/2009 wegen der niedrigen Zinsen 368 Milliarden Euro gespart hat.

Bleibt die Frage, warum Deutschland auch sonst so viel besser dasteht als viele seiner „Partner“ in Europa. Die Antwort lautet: Weil es sich mit seiner einseitigen Orientierung am Export auf Kosten anderer bereichert. „Wettbewerbsfähigkeit“ hat für diese Kanzlerin – wie übrigens auch für ihren Vorgänger Gerhard Schröder – immer bedeutet, den europäischen und internationalen „Partnern“ möglichst viele deutsche Produkte und Dienstleistungen zu verkaufen. Schon die Agenda 2010 des – laut Parteibuch – Sozialdemokraten Schröder diente diesem Zweck, indem sie den Druck auf die Löhne verstärkte. Wer diese Politik als Rezept für alle empfiehlt, verschweigt schuldhaft, dass die Überschüsse der einen zwingend die Defizite von jemand anderem sind.

Die Kritik an der deutschen Exportlastigkeit ist bei Angela Merkel immer auf taube Ohren gestoßen, obwohl sie offensichtlich zu erheblichen Ungleichgewichten führt. Die Überschüsse sind zwischen 2005, als sie Kanzlerin wurde, und 2017 von 158 auf 245 Milliarden Euro gestiegen. „Damit steigt das Risiko von Störungen … in verschuldeten Ländern zum Schaden aller“, schrieb der Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds, Maurice Obstfeld. Exportlastigkeit sei „nicht unbedingt ein Zeichen von Stärke, sondern ein Beleg heimischer Investitionsschwäche und einer Sparquote, die über das hinausgeht, was wirklich notwendig ist“.

Der Experte der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung, Fabian Lindner, verwies auf den Zusammenhang dieser Überschüsse mit Krisen wie derjenigen in Griechenland: „Andere Länder erhöhen ihre Schulden, um deutsche Waren zu importieren. Deutschlands Wirtschaftsmodell lebt also davon, dass andere höhere Schulden aufhäufen. (…) Das ist nicht einfach eine abstrakte Gefahr irgendwann in der Zukunft. Wir hatten das schon einmal mit der Finanzkrise von 2009/2010, der sogenannten Euro-Krise. Die Situation kann sich wiederholen.“

Auch Lindner empfiehlt als Gegenmittel zusätzliche Investitionen: „Die Nachfrage könnte etwa durch öffentliche Ausgaben für die Infrastruktur gesteigert werden. Auch sollten mehr Leute beschäftigt werden, sie würden dann mehr ausgeben, was dann zum Teil für importierte Waren ausgegeben würde.“

Ökonomische Turbulenzen, die in Deutschland so gern als Problem der anderen gesehen werden, haben also mit der Merkel’schen Politik in Wahrheit eine Menge zu tun. In der EU gibt es eine Regel, nach der die Überschüsse in der Leistungsbilanz eines Landes 6 Prozent nicht übersteigen sollen. Das deutsche Plus lag im Jahr 2017 bei 7,9 Prozent. Aber während die Verschuldung anderer Länder für jede Menge Aufregung sorgt, redet über diesen deutschen Beitrag zur europäischen Krisenanfälligkeit fast niemand. Kein Wunder: Noch sichert er ja Arbeitsplätze in Deutschland – wenn auch auf Kosten der „Partner“.

Wer diese Zusammenhänge zur Kenntnis nimmt, wird nachvollziehen können, wie zynisch es klingt, wenn Angela Merkel ausgerechnet die Griechen für ihr Durchhalten in „schwierigen Jahren“ lobt – während sich ihre Regierung mit den Gewinnen brüstet, die der deutsche Staat nicht zuletzt aus der Krise gezogen hat.

Stephan Hebel

Stephan HebelStephan Hebel, langjähriger Redakteur der "Frankfurter Rundschau" und politischer Autor, ist seit drei Jahrzehnten Leitartikler und Kommentator. Er schreibt unter anderem auch für Deutschlandradio, "Freitag", "Publik Forum" und weitere Medien. Er ist zudem regelmäßiger Gast im "Presseclub" der ARD und ständiges Mitglied in der Jury für das "Unwort des Jahres".

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