Leukämie: Wenn das Blut verrücktspielt
Leukämie geht uns alle an
Mehr als 11.000 Menschen erkranken in Deutschland jedes Jahr an Leukämie. Emil Morsch erzählt die Geschichte seines Sohnes Stefan Morsch, der 1984 im Alter von 16 Jahren an Leukämie erkrankte. Trotz erfolgreicher Stammzellenbehandlung, stirbt er noch im selben Jahr an den Folgen einer Lungenentzündung. Daraufhin gründen Emil Morsch und seine Frau Hiltrud die Stefan-Morsch-Stiftung und legen die erste Spenderdatei für Leukämiekranke in Deutschland an.
In „Hoffen, helfen, heilen“ erzählt Emil Morsch von vielen spektakulären Hilfs- und Spendenaktionen und möchte für das Thema Leukämie sensibilisieren. Was ist das für eine Krankheit? Wen kann es treffen? Und welche Hilfsangebote und Heilungschancen gibt es?
Mehr als Leukämie
Sinn und Zweck der Stefan-Morsch-Stiftung ist die Hilfe für Leukämie- und Tumorkranke. Doch lange schon sind wir auch Ansprechpartner für Patienten mit anderen Erkrankungen – schon seit den 1980er Jahren. Das sitzt irgendwie in mir drin, wie ein Instinkt, »da geht noch etwas«. Ich kann eine als ausweglos bezeichnete Situation schwer akzeptieren, sondern will immer noch etwas versuchen. Etwas bewegen. Anscheinend habe ich manchmal ein richtiges Gespür, was Patienten brauchen, und wenn es gut läuft, finde ich die richtige Art, Ärzte und Patienten anzusprechen.
Ich versuche zu erkennen, wo die Not ist und was man tun kann. Möglicherweise wirke ich dann manchmal ein wenig schroff, aber das ist nicht so gemeint. An folgende Geschichte denke ich immer wieder zurück: Ein guter Bekannter, der ein mehrmals in den Landtag gewählter Abgeordneter war, informierte mich im April 1987 über die schwere Erkrankung seiner Frau. Oft sind in solchen Fällen die Partner hilflos und können kaum einen klaren Gedanken fassen.
Das Herz seiner Frau arbeitete nur noch zu maximal 20 Prozent und ließ ständig an Aktivität nach. Das ließ nur den Schluss zu, dass das Liebste in seinem Leben nur noch maximal zwei bis drei Wochen leben würde.
Ich versuchte, meinen Freund zu trösten, und empfahl ihm, mich beim nächsten Besuch in der Uniklinik zu einem Gespräch mit den behandelnden Ärzten mitzunehmen. Vor Ort war die Lage für mich unfassbar: Die Prognose wurde bestätigt, und man sah keine Möglichkeit mehr, der Patientin wirksam zu helfen. Ich fragte Ulrike, ob sie zu einem Liegend-Transport nach Hannover bereit wäre. Damals fanden dort die meisten Herztransplantationen statt, man war also bei der neuen Technik dort mit an vorderster Stelle.
Ein müdes Herz geht auf Reisen
Die Patientin war so schwach, dass sie nicht mehr sprechen konnte, nur noch müde den Kopf bewegen. Sie nickte.
Über den mir bekannten Chef der Hämatologie/Onkologie konnte ich sehr schnell einen Termin zur Untersuchung der Patientin erlangen. Ich verschwieg jedoch, wie lebensbedrohlich ihr Zustand war. Sie wurde daher bereits zwei Tage später, am 29. April 1987, liegend in einem Krankenwagen ins UKH nach Hannover gebracht.
Der Ehemann und ich saßen anschließend wie auf glühenden Kohlen, während wir auf die erste Stellungnahme warteten. Diese fiel leider nicht sehr gut aus. Der behandelnde Professor warf mir lautstark am Telefon vor: »Sagen Sie mal, Herr Kollege, sind Sie wahnsinnig geworden? Wie können Sie die Patientin in diesem Zustand hierher befördern?« Er war der Meinung, ich sei der behandelnde Hausarzt.
Ich konnte diese Schelte gut vertragen. Ich wusste ja: Jetzt ist sie in guten, nein, in den besten Händen. Ich war
Glück!
Dann geschah das, was man fast als kleines Wunder bezeichnen könnte, denn während es sonst Monate, ja sogar Jahre dauert, bis ein passendes Spenderorgan gefunden wird, kam bereits am nächsten Tag aus Hannover die Nachricht, ein passendes Herz sei vorhanden, und noch am selben Tag solle die Transplantation stattfinden.
Die Nacht vom 30. April auf den 1. Mai 1987 werde ich sicherlich nicht vergessen. Als die Nachricht kam, die Transplantation des neuen Herzens sei gut verlaufen, habe ich in dieser Nacht, der sogenannten Hexen- oder Walpurgisnacht, derart unmäßig dem Alkohol zugesprochen, dass ich mit freundlicher Hilfe der örtlichen Polizei nach Hause gebracht werden musste.
Ich war einfach nur überglücklich.
Es versteht sich von selbst, dass Ulrike zu meinem Patenkind wurde und wir in den folgenden Jahren ihren Geburtstag am 30. April zünftig gefeiert haben. Ursprünglich hatte sie nur gehofft, mit dem neuen Herzen weiterleben zu können, bis ihre Kinder groß wären. Sie hat jedoch weit länger gelebt als erwartet, und ich glaube, dass sie auch heute noch leben könnte, wäre sie im entscheidenden Augenblick richtig behandelt worden.
Ich bin auch heute noch sehr glücklich, weil ich glaube, dass ich etwas Gutes geleistet habe. Immer und immer wieder habe ich diese Situation mit der unseres leukämiekranken Sohnes verglichen. Für Ulrike standen die Chancen ebenfalls derart schlecht, dass man diese tolle Entwicklung, die ihr immerhin weitere 23 Lebensjahre schenkte, sicher nicht vorhersehen konnte.
Wir können auch heute noch den Ärzten ein großes Dankeschön sagen. Ulrikes Ehemann ist schon seit Jahren Abgeordneter im rheinland-pfälzischen Landtag und hat durch seine Frau viel Unterstützung und liebevolle Betreuung erfahren.
Maurice und die Vampire
Maurice war erst drei Jahre alt, als er als Hochrisikopatient wegen einer PB-ALL (akuten Leukämie) behandelt und – nachdem ein Spender über das ZKRD gefunden war – dann transplantiert werden konnte.
Auch er ist ein ›Vorzeigepatient‹, wie ich es gern nenne, auch er wurde 2001 in der Transplantationsklinik der Stiftung in Idar-Oberstein erfolgreich behandelt. Auch er ist gesund geworden. Wir haben über seine Geschichte eine kleine Film-Dokumentation gedreht.
Seine Mutter hat damals zusammen mit der Koordinatorin der Stiftung − Elisabeth Terboven – eine Typisierungsaktion gestartet und kann dieses Aktivwerden anderen betroffenen Eltern nur empfehlen: Man hat das Gefühl, man kann etwas tun. Denn nur beim Kind zu sein und ihm beizustehen, das ist natürlich auch sehr wichtig, aber das Leiden des Kindes ständig vor Augen zu haben, ist manchmal schwer auszuhalten. Davon kann ich selbst ja auch ein Lied singen. Auch mir hat es damals sehr geholfen, aktiv zu werden.
Maurice Klar ist heute bereits 20, vollkommen gesund und wohnt auch heute noch in Dortmund. Man versuchte damals, ihm verständlich zu machen, was in seinem Körper passiert. Warum er sich plötzlich so schlecht fühlt, warum man ihm dauernd mit vielen Spritzen wehtun muss. Wie soll man das einem kleinen Kind erklären? Man sieht ja nichts von dem, was im Blut passiert. Er hat dann eine Möglichkeit gefunden, das kindgemäß auszudrücken, nämlich mit dem Bild von den Vampiren, die sein Blut auffressen und die man nun mit starker Medizin bekämpfen muss.
Die Zeit danach
Die Zeit der „Leukämie“ war natürlich hart für ihn, aber trotzdem hat er gute Erinnerungen an uns: Neulich hat er uns mit seiner Freundin und der Mutter in der Stiftung besucht und sich bei mir für die Durchführung der damaligen Hilfsaktion in Dortmund nochmals bedankt. Er betrachtet auch mich als seinen Lebensretter. Ich denke, wir sind inzwischen gute Freunde geworden.
Maurice hatte seltene Gewebemerkmale. Es war ein echter Glücksfall, dass für ihn rechtzeitig ein gut geeigneter Spender gefunden werden konnte. Die Transplantation war am 29. Juni 2001, und bereits von April 2002 an konnte er wieder den Kindergarten besuchen.
Mit ihm gibt es noch eine lustige Geschichte, die man auch kurz im Film sieht. Als es Maurice schon wieder besser ging, wünschte er sich eine Fahrt auf der Sommerrodelbahn. Ich war gern bereit, diese Fahrt im benachbarten Saarland mit ihm zu machen. Es musste jedoch einiges vorbereitet werden. Insbesondere die jungen Mädchen, die ebenfalls mit ihren Schlitten die Bahn hinunterfuhren, mussten die Bahn für kurze Zeit räumen. Sie standen zu oft auf der Bremse.
Da Maurice’ ganze Geschichte von einem Filmteam dokumentiert wurde, war auch dort ein Kameramann dabei. Er stellte sich hinten auf den Schlitten, um die Abfahrt aus nächster Nähe zu dokumentieren. Der kleine Maurice saß vor mir auf dem Schlitten, und wir waren begeistert, die Bahn in schnellem Tempo hinunterfahren zu können. Ich bemerkte erst zum Ende der Fahrt, dass der Kameramann wohl mitten auf der Strecke unfreiwillig einen Absprung gemacht hatte. Ihm war zum Glück nichts passiert, aber seit diesem Zeitpunkt weiß ich, was so eine Kamera kostet. Eine neue Kamera musste besorgt, dann die Bahn wieder freigemacht werden, und dann begann das Ganze noch einmal.