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Leben durch den Tod

In Deutschland stehen derzeit rund 8.500 Menschen auf der Warteliste für ein Spenderorgan. Dem gegenüber stehen 869 Organspenden im Jahr 2022. Muss es anhand dieses Missverhältnisses nicht als Pflicht empfunden werden, die eigenen Organe zur Spende freizugeben? Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob der Moment, in dem die Organe entnommen werden müssen, tatsächlich mit dem Ende des Lebens zusammenfällt. Darum geht es in dem neuen Streitfragen-Band „Organspende“. Nach Dieter Birnbachers Text folgt nun ein Beitrag von Sigrid Graumann: Aus ihrer Sicht birgt das Kriterium des Hirntodes die große Gefahr einer Reduzierung des Menschen auf kognitive und rationale Fähigkeiten, die schwerwiegende gesellschaftliche Folgen mit sich bringt.

Das zentrale Problem an der Frage nach Organspenden besteht darin, dass lebenswichtige Organe für eine Transplantation nur dann nutzbar bleiben und im Körper der Organempfängerin oder des Organempfängers weiter funktionieren können, wenn sie bis kurz vor der Entnahme, der Explantation, durchblutet werden. Als Organspender:innen kommen daher nur Personen in Frage, die auf einer Intensivstation unter Beatmung an den Folgen einer Hirnschädigung sterben. Daraufhin können dann die Lebensfunktionen mit intensivmedizinischer Hilfe aufrechterhalten und auch die Beatmung bis zur Organentnahme fortgesetzt werden. Bevor eine Organentnahme ins Auge gefasst wird, muss der ›unumkehrbare Ausfall der Gehirnfunktionen‹, der Hirntod, diagnostiziert worden sein. Außerdem muss eine Einwilligung in die Organspende vorliegen. Sowohl das Hirntodkriterium selbst als auch die verschiedenen Formen der Einwilligung werde ich im Folgenden noch kritisch hinterfragen Meines Erachtens sind dies aber keineswegs die einzigen Schwierigkeiten. Vielmehr sind die zwei zentralen ethischen Fragen angesprochen, die sich im Zusammenhang mit der Organtransplantation stellen:

Erstens: Sind als hirntot diagnostizierte Patient:innen wirklich Tote, oder befinden sie sich nicht eher in einem Stadium zwischen Leben und Tod? Sind sie in diesem Sinne nicht eigentlich Sterbende? Der Hirntod widerspricht unserer sinnlichen Wahrnehmung, denn die künstliche Beatmung hält die Patient:innen vermeintlich am Leben. Sie sind warm und rosig, scheinen nur zu schlafen. Dies macht es für Angehörige, aber auch für behandelnde Ärzt:innen und Pflegekräfte schwer nachzuvollziehen, dass die Person, um deren Gesundheit und Leben sie eben noch gebangt und gekämpft haben, plötzlich tot sein soll. Dies führt nachvollziehbarerweise zu Irritationen:

Einer (noch) lebenden Person dürften keine lebenswichtigen Organe entnommen werden, da das ihrer Tötung gleichkäme. Die verbindliche Festlegung des Hirntodes als tatsächlicher Tod des Menschen wird daher in der Regel als entscheidende Voraussetzung für die Zulässigkeit der Organspende und -transplantation angesehen. Vor diesem Hintergrund stellen sich aus ethischer Sicht die Fragen, welchen moralischen Status wir als hirntot diagnostizierten Personen zuschreiben müssen und damit zusammenhängend, welche moralische Rücksichtnahme wir ihnen schulden.

Zweitens: Welche Anforderungen sind an eine gültige Einwilligung zur Organspende zu stellen? Es ist unstrittig, dass das Selbstbestimmungsrecht potenzieller Organspender:innen geachtet werden muss. Strittig ist aber, auf welche Weise das geschehen soll: Muss eine Person der Organspende zu Lebzeiten persönlich zugestimmt haben, etwa in einem Organspendeausweis? Das wäre die enge Zustimmungslösung, die von vielen, die der Praxis der Transplantationsmedizin eher kritisch gegenüberstehen, gefordert wird. Reicht es auch aus, wenn Angehörige stellvertretend einwilligen und dabei so entscheiden, wie die Person selbst vermutlich entschieden hätte? Das ist die erweiterte Zustimmungslösung, die hierzulande und in vielen Nachbarländern bislang gilt. Oder könnte es gar ausreichen, wenn die betreffende Person einer Organspende zu Lebzeiten nicht widersprochen hat? Das wäre die Widerspruchslösung, für die auch hierzulande diejenigen streiten, für die die Erhöhung der Zahl transplantierbarer Organe höchste Priorität hat.

Auch wenn die beiden zentralen ethischen Fragen in Deutschland per Gesetzgebung pro Hirntodkriterium und pro erweiterter Zustimmungslösung entschieden sind und die bestehenden Regelungen erst kürzlich mit der zweiten Reform des Transplantationsgesetzes bestätigt wurden, sind und bleiben sie umstritten. Die weitere Diskussion darüber erübrigt sich daher keinesfalls.

Sigrid Graumann

Sigrid GraumannProf. Dr. Dr. Sigrid Graumann, geboren 1962, ist Biologin, Humangenetikerin und Ethikerin. Sie ist seit 2011 Professorin für Ethik an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, die sie seit 2017 als Rektorin leitet. 2000 schloss sie ihre erste Dissertation in der Humangenetik über wissenschaftsethische Fragen der somatischen Gentherapie ab, 2009 dann ihre zweite in der Philosophie über menschenrechtsethische Fragen der UN-Behindertenrechtskonvention an der Universität Utrecht. 2000-2005 war sie Mitglied der Enquetekommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" des Deutschen Bundestages und ist seit 2016 Mitglied des Deutschen Ethikrates.

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