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Kein Wohlstand für alle ?!

„Wohlstand für alle“ lautet seit Ludwig Erhard das zentrale Versprechen aller Regierungen. Tatsächlich jedoch werden seit Jahrzehnten die Reichen immer reicher, während immer größere Teile der Mittelschicht abgehängt werden und von der Hand in den Mund leben müssen. Deutschland fällt auseinander – sozial, regional und politisch. Von gleichwertigen Lebensverhältnissen für alle kann längst keine Rede mehr sein. Das ist weder Zufall noch Schicksal, sondern das Ergebnis einer Politik, die sich immer stärker einem modernen Neoliberalismus verpflichtet sieht. In diesem Sinne kommentiert Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, auch die aktuellen Sondierungsgespräche von Union, FDP und Grünen.

 

Was man so hört aus den Sondierungsgesprächen, stimmt wenig optimistisch; zumindest all diejenigen, denen ernsthaft und ehrlich an einer Politik gelegen ist, die in der Lage wäre, Armut zu bekämpfen, Menschen in schwierigen Lebenssituationen soziale Sicherheit und – noch besser – Perspektiven zu geben. Mit anderen Worten: Wer wirklich an einer Politik interessiert ist, die diese auseinanderdriftende Gesellschaft zusammenhalten könnte, muss beim derzeitigen Stand der Sondierungen mehr als skeptisch sein.

Denn dass diese Gesellschaft auseinanderdriftet, daran dürfte kein Zweifel bestehen, auch wenn interessierte Kreise in ihren Predigten nicht müde werden zu betonen, wie gut es Deutschland doch gehe – gegen alle Fakten und gegen alle Vernunft. Zu groß ist die Zahl der Armen. Zu groß die Zahl derjenigen, die von der Hand in den Mund leben müssen und die sich jetzt schon an ihren fünf Fingern ausrechnen können, dass trotz Arbeit ihre Rente später einmal nicht reichen wir, um vor dem bitteren Gang zum Sozialamt zu bewahren. Zu groß ist die Kluft zwischen Durchschnitt und Reich. Und zu groß ist auch das regionale Wohlstandsgefälle zwischen München und Bremerhaven. Es bräuchte in den nächsten vier Jahren eine Regierung von Parteien, die genau darin ihr gemeinsames Projekt sehen: den großen Herausforderungen von der Digitalisierung bis zum Klimaschutz gerecht zu werden und dabei Deutschland zugleich wieder sozial zusammenzuführen. Stattdessen macht es den Eindruck, als werde die soziale Aufgabe gerade mehr oder weniger geopfert, um zumindest auf den anderen Feldern noch irgendetwas hinzubekommen, was halbwegs trägt und was man den jeweiligen Parteivölkern verkaufen kann.

Von kaum überbrückbaren Differenzen und „Knackepunkten“, wie es die Kanzlerin nennt, ist die Rede: in der Klimapolitik, in der Verkehrspolitik, bei der Zuwanderung und in der Flüchtlingspolitik. Nur beim Sozialen scheint es solche „Knackepunkte“ offenbar nicht zu geben – irgendwie alles nur Streit um Details bei Renten, beim Familienlastenausgleich oder bei der Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit. Vorsichtshalber scheint man die Armutsentwicklung gleich mal völlig ausgeblendet zu haben, will man mit solchen Begriffen doch nicht das Klima verderben. Gerade einmal etwas zur Bekämpfung der Kinderarmut scheinen die wackeren Grünen einzubringen, wollen den Bogen aber auch nicht gleich überspannen und lassen sich mit einer kleinen Reform des Kindergeldzuschlages und einer kleinen Erhöhung des Schulgeldes für Kinder in Hartz IV abspeisen.

Viel investieren müsse man, da sind sich die Sondierer einig:  ins Digitale, aber auch in Schulen. Auch Wohnungen will man wohl schaffen. Gleichzeitig ist von der Abschaffung des Soli die Rede und dass man auf Steuererhöhungen bei Erbschaften und Vermögen doch lieber verzichten wolle. Um die Gespräche nicht gleich am ersten Tag zu beenden und alle Hoffnungen auf eine Regierungsbeteiligung fahren zu lassen, hatte die grüne Verhandlungsdelegation Steuererhöhungen für Reiche und Superreiche gar nicht erst angesprochen.

Die vielbemühte Quadratur des Kreises darf man daher im Vergleich zu dem, was wir derzeit bei der Sondierung für die konservativ-ökoliberale Koalition erleben, daher gern als eher einfache Übung ansehen.  Der Gewinner bei diesem Spiel dürfte auch schon feststehen: der gute alte Finanzierungsvorbehalt, der schon in den vergangenen vier GroKo-Jahren zuverlässig dafür sorgte, dass zwar so einiges angepackt wurde, kaum aber etwas so, dass es nachhaltig hätte soziale Probleme lösen können. Die berühmten Tropfen auf den heißen Stein.

Das Ergebnis: Trotz Mindestlohn, trotz BAföG-Reform, trotz Wohngeldnovelle oder Erhöhung der Mittel für den sozialen Wohnungsbau waren es armutspolitisch dann doch vier verlorene Jahre, die nur eines ein weiteres Mal unterstrichen: Eine Politik, die den Menschen das Gefühl der sozialen Sicherheit wiedergeben kann, eine wirkungsvolle Wohnungspolitik, eine gute Politik der Alterssicherung, eine Arbeitsmarktpolitik, die alle mitnimmt, und eine Bildungspolitik, die ebenfalls niemanden zurücklässt, sind ohne eine entsprechende Steuerpolitik schlechterdings nicht machbar. Vieles deutet daher leider darauf hin, dass auch die nächsten vier Jahre sozialpolitisch verlorene Jahre werden könnten.

Ulrich Schneider

Ulrich SchneiderUlrich Schneider ist Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Berlin. Er ist Autor verschiedener Publikationen zu den Themen Armut in Deutschland, Verantwortung des Sozialstaates und soziale Gerechtigkeit. Im Westend Verlag erschienen zuletzt „Kampf um die Armut“(2015) sowie "Kein Wohlstand für alle!?" (2017).

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