Journal einer Mieterin
Ria Endres lebt im Frankfurter Nordend und beobachtet seit Jahren das immer brüchiger werdende soziale Gefüge der Stadt. Denn eine ohnmächtige Politik überlässt die Stadtentwicklung einer Immobilienwirtschaft, die nur eines interessiert: maximaler Profit. Ein „Nordend“ gibt es in jeder deutschen Großstadt. Ein gewachsenes Viertel, in dem Menschen seit Jahrzehnten in Miethäusern wohnen – aber plötzlich radikalen Veränderungen ausgesetzt sind: Eine Immobilienkauffrau oder eine Investorengruppe haben ein Haus erworben, das meistbietend verschachert werden soll. „Nordend“ legt den Finger in die Wunden städtischer Veränderung und berührt die für alle Stadtbewohner so wichtige Frage nach der Heimat.
Ein harmloses Klingeln, so begann alles. Ich öffnete die Wohnungstür. Schon bevor meine Nachbarin zu sprechen anfing, sah ich an der Neigung ihres Kopfes, dass irgendetwas geschehen war, was mein Leben verändern wird. Sie versuchte zu lächeln, doch was sie sagte, erschreckte mich. Unser Haus soll, so die Hausbesitzerin in einem Telefonat mit meiner Nachbarin, demnächst verkauft werden. Ein Vorgang hinter unserem Rücken. Mein Kopf surrte an diesem herrlichen Frühlingsabend. Unser Haus verkaufen? Ich war für Augenblicke unfähig, das Wort verkaufen richtig zu verstehen, obwohl ich mit der Bedeutung von Wörtern vertraut bin. Meine Mietwohnung soll also wie alle anderen neun Mietwohnungen unseres Hauses verkauft werden. Nicht ich, nur die Wohnung. Denn es ist ja in Wirklichkeit nicht unser Haus, es war nie unser Haus. Was man so alles dahinsagt.
Ich dachte immer, mir würde so etwas nicht passieren oder sollte ich sagen: zustoßen. Das Verhältnis zu unserer Hausbesitzerin war doch nicht schlecht, im Gegenteil, es hatte sich über Jahrzehnte hinweg fast ein Vertrauensverhältnis entwickelt. Aber das bedeutete plötzlich gar nichts mehr, sonst hätte uns die Hausbesitzerin über ihren Plan informiert, und sicher wäre ein für alle annehmbarer neuer Besitzer gefunden worden. »Alles net bös gemeint«, hat der Bruder der Hausbesitzerin gesagt, der sich wie der wahre Hausbesitzer aufspielte. Also müsste ich mich eigentlich nicht fürchten, oder doch? Net bös gemeint heißt: Ich, als plötzlich schlaflose Mieterin im Frankfurter Nordend, soll bitte demnächst oder später wegen irgendwelcher obskurer Modernisierungen des neuen Besitzers aus meinen vier Wänden verschwinden, wenn ich die Umbaumaßnahmen nicht aushalte und die explodierende Miete nicht mehr bezahlen kann.
Verschwinden. Nur wohin? In eine andere Mietwohnung, wo mir wieder das Gleiche droht? Ich nenne meine vier Wände im Frankfurter Nordend mein Zuhause, obwohl ich auch in der Sprache mein Zuhause habe. Zumindest in ihr konnte ich der Verzweiflung immer entgehen. Zumindest in der Sprache und in meinen vier Wänden fühle ich mich nicht fremd. Im Gegenteil, ich kann mir mein Leben nirgends anders vorstellen. Zwar habe ich auch auf Reisen geschrieben, aber die meisten Texte sind hier im Frankfurter Nordend entstanden, also nicht in einem luftleeren Raum.
Wie schnell ein Leben kippt, weiß ich, und zwar nicht nur aus Filmen. Natürlich beobachte ich alle möglichen Veränderungen in Frankfurt seit Jahren und auch die verfehlte Wohnungspolitik der Stadt. Entfesselte Finanzmärkte ohne erkennbare Regeln erschrecken mich. Die Herrschaft des Geldes hat viele Gesichter.
Unter Gentrifizierung wollte ich mir nie so recht etwas vorstellen. Jetzt kann ich mich nicht mehr um den Begriff herummogeln. Gentrifizierung heißt: Verdrängung der Bewohner wegen explodierender Mieten nach sogenannten Modernisierungen und ist ein Zeichen der Zeit mit ihrem fieberhaften Immobilienmarkt, der irgendwann in einem folgerichtigen Ende platzen wird. Und welche neuen Bewohner haben jetzt den Platz der Verdrängten eingenommen?