/Kommentare/„Ich habe neun Leben gelebt“

„Ich habe neun Leben gelebt“

„Ich habe die Nazis erlebt, die Kommunisten überlebt, die Zionisten erduldet und den Sozialisten geholfen.“ So beschreibt Joseph Melzer sein bewegtes Leben. Der leidenschaftliche Verleger wurde 1908 in Galizien geboren, kam 1918 nach Berlin, floh 1933 vor den Nazis nach Palästina, kehrte 1936 nach Europa zurück, wo er von Paris über Warschau nach Russland flüchtete. Hier wurde er als deutscher Spion verhaftet und kehrte 1948 nach Israel zurück. Zehn Jahre später gründete er in Köln seinen Verlag, der sich auf jüdische Autoren spezialisierte, die die Nazis verbrannt hatten. Ein Buch auch über die Liebe zu und das Leben mit Büchern.

Ich habe geglaubt, dass ich mit Deutschland für immer gebrochen habe. Aber ich habe mich wohl getäuscht oder es mir nur eingebildet. Im Inneren meines Herzens sehnte ich mich nach Deutschland zurück, nach der deutschen Sprache, nach deutscher Kultur, von der ich annahm, dass sie nicht vollständig von den Nazis zerstört worden ist, nach der deutschen Landschaft, die ich in meiner Jugend lieben gelernt habe, nach dem deutschen Wetter und dem deutschen Unwetter. Die brennende Sonne in Israel machte mich krank.

Als ich im Frühjahr 1958 zum ersten Mal seit über 20 Jahren wieder Deutschland bereiste, besuchte ich in Köln Rechtsanwalt David Feinberg, einen alten Bekannten und Kunden aus Haifa. Feinberg lebte schon mehrere Jahre in Deutschland, genau seit 1953, und kümmerte sich ausschließlich um Wiedergutmachungsanträge überlebender Juden gemäß dem Staatsvertrag von 1952 zwischen Deutschland und Israel, der von David Ben Gurion und Konrad Adenauer unterzeichnet worden war. Ich war überrascht, als er mir vorschlug, auch einen Antrag auf Wiedergutmachung zu stellen und mit dem Geld, dass er für mich von der Behörde bekommen würde, in Köln einen Verlag zu gründen. Sollte es nicht reichen, war er bereit, sich als stiller Teilhaber an der Finanzierung zu beteiligen. Grund für eine Wiedergutmachungszahlung sei der Verlust meines Buchlagers in Paris und nicht zuletzt der Versuch der Nazis, mich zu verhaften, was die Ursache für meine Flucht aus Deutschland war. Ich persönlich wäre nicht auf die Idee gekommen, dafür Geld vom Staat zu fordern, aber ich bin auch kein Anwalt, und seine Argumente überzeugten mich.

Ich unterschrieb diverse Vollmachten, die er mir vorlegte, darunter mein Einverständnis, dass er 20 Prozent der Summe, die ich bekommen sollte, als Honorar behalten durfte. Ich bekam am Ende tatsächlich immerhin 40 000 Mark, und Feinberg behielt seine vereinbarten Prozente. 32 000 Mark waren 1958 zwar viel Geld, aber nicht genug, um damit einen Verlag von Null weg zu starten. Feinberg stand aber zu seinem Wort und investierte so lange Geld in den Verlag, bis es ihm schließlich zu viel wurde.

Ich gründete den Joseph-Melzer-Verlag und holte meine Familie nach. Die ersten Jahre war unsere Wohnung auch mein Büro, und dort suchten mich Manès Sperber, Paul Celan und andere jüdische Intellektuelle auf. Das erste Buch, das ich verlegte, war die „Geschichte des Jüdischen Krieges“ von Flavius Josephus, kurz danach erschien Arnold Zweigs „Bilanz der deutschen Judenheit“.

Das erste Jahrzehnt in der Bundesrepublik Deutschland – es waren die sechziger Jahre – war spannend und aufregend zugleich. Interessant für mich waren die Buchmessen in Frankfurt, wo ich in der Regel einen kleinen Stand in Halle 5 hatte und kaum etwas verkaufte. Die Zeit war offensichtlich noch nicht reif für Bücher, die das Judentum zum Thema hatten. Es war mir aber dennoch wichtig, präsent zu sein, zu zeigen, dass es mich und mein Programm gibt. Ständig hieß es: »Der Melzer, der ist pleite!« Und jedes Mal wurde ich mit dem Ruf begrüßt: »Ach, es gibt Sie noch.« Manche wunderten sich, andere freuten sich, die meisten haben mich aber überhaupt nicht wahrgenommen.

Es war nicht einfach. Jedes Mal, wenn ich Deutsche meiner Generation kennenlernte, fragte ich mich, was sie wohl im Dritten Reich und im Krieg gemacht haben mochten und ob sie an der Vernichtung der Juden, vielleicht gar meiner eigenen Familie, beteiligt waren. Beim Arzt, den ich immer wieder wegen meiner noch nicht völlig auskurierten Erkrankungen aus der Zeit im Gulag und in Samarkand aufsuchen musste, hatte ich permanent das unbestimmte Gefühl, er sei ein SS-Arzt gewesen. Ich wagte aber natürlich nicht, ihn danach zu fragen. Vielleicht tue ich ihm mit solchen Verdächtigungen auch Unrecht. Er war freundlich, vielleicht zu freundlich, aber kalt wie ein Fisch. Er behandelte mich gründlich und höflich, aber ich fror, wenn er mich untersuchte.

Es war nicht einfach, Freundschaften mit Deutschen zu schließen. Nicht nur, weil ich schon zu alt war, sondern weil zwischen ihnen und mir – wie eine unsichtbare Mauer – stets der Holocaust stand. Leichter war es, mit jüngeren Deutschen zu verkehren, bei denen ich immerhin davon ausgehen konnte, dass sie keine Schuld auf sich geladen hatten. Sie hatten die Gnade der späten Geburt.

Die Verlagsarbeit brachte mich mit vielen Deutschen in Berührung, die mich verstehen ließen, dass der Vorwurf einer deutschen Kollektivschuld nicht nur die Täter des Verbrechens an den europäischen Juden trifft, sondern auch viele Unschuldige. Von allen Menschen, die mir im Laufe meiner Zeit in der Bundesrepublik begegneten, möchte ich vor allem Achim von Borries hervorheben, den Herausgeber der Werke von Bertrand Russell und damals Chefredakteur sowie Herausgeber der „Blätter für deutsche und internationale Politik“. Er gehört der jüngeren deutschen Generation an, die noch die letzte Phase des Krieges erlebte. Durch unsere Gespräche, die thematisch zumeist um Juden, Deutschland und Israel kreisten, verhalf er mir zu einem tieferen Verständnis der bundesdeutschen Wirklichkeit, indem er mich davon überzeugte, dass nicht alle Deutschen ihr humanistisches Erbe verraten hatten. Er war für mich der Repräsentant eines neuen Deutschlands, mit dem ich mich trotz der Nazi-Gräuel versöhnen konnte. Er vertrat die Ideen der Aufklärung und des liberalen Denkens in seiner besten und liebenswertesten Form. Für ihn stand außer Frage, dass die geistig-sozialen Verdienste deutscher Juden sie zu bedeutenden Repräsentanten der deutschen Kultur machten.

Joseph Melzer

Joseph MelzerJoseph Melzer war ein leidenschaftlicher Buchhändler und Verleger. 1907 in Galizien geboren, floh er 1918 nach Berlin und 1933 vor den Nazis nach Palästina. Er hielt es nur drei Jahre dort aus und kehrte 1936 nach Europa zurück und ließ sich in Paris nieder. 1939 erwischte ihn der Krieg in Warschau, er floh Richtung Osten, wo die Russen ihn gefangen nahmen und als deutschen Spion für 10 Jahre Haft in Sibirien verurteilen ließen. Nach dem Krieg wanderte er 1948, inzwischen mit Frau und zwei Söhnen, zum zweiten Mal nach Israel ein, wo er bis 1958 blieb und danach nach Deutschland zurückkehrte. Er starb 1984 und wurde in Darmstadt beerdigt.

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