/Kommentare/Hat die Private Krankenversicherung eine Zukunft?

Hat die Private Krankenversicherung eine Zukunft?

Bernd Hontschik hat in seinen vierzig Jahren Berufserfahrung als Chirurg die Verwandlung der Humanmedizin in einen profitorientierten Industriezweig selbst erlebt und liefert mit seinem Buch „Erkranken schadet Ihrer Gesundheit“ einen spannenden, manchmal erschütternden Blick auf Medizin und Gesundheitswesen – so auch sein Kommentar zum Zwei-Klassen-System Krankenversicherung.

Laut einer Bertelsmann-Studie könnten die gesetzlichen Krankenkassen neun Milliarden Euro mehr einnehmen und den allgemeinen Beitragssatz um 0,7 Prozent senken, wenn alle Bundesbürger*innen gesetzlich krankenversichert wären. In Deutschland sind aber etwa zehn Prozent privat versichert. Diese 8,7 Millionen verdienen im Durchschnitt über fünfzig Prozent mehr als die 73 Millionen gesetzlich Versicherten und sind im Vergleich gesünder. Es heißt, sie würden eine privilegierte medizinische Behandlung erhalten, man spricht von einer Zwei-Klassen-Medizin. Die Besserverdienenden, die außerdem auch noch Gesünderen haben sich aus unserem Solidarsystem verabschiedet. Wie ist das eigentlich in unseren Nachbarländern geregelt? Die entscheidenden Fragen sind: Müssen dort alle an einem Solidarsystem teilnehmen? Wie wird es finanziert? Wie sind die Leistungen?

In Österreich besteht für ausnahmslos alle Bürger*innen eine Krankenversicherungspflicht in regionalen Gebietskrankenkassen. Die Beiträge richten sich nach dem Einkommen und werden zur Hälfte von Arbeitnehmern und Arbeitgebern getragen. Familienmitglieder sind überwiegend kostenlos mitversichert. Die Leistungen aller Kassen sind gleich, Konkurrenz zwischen Krankenkassen gibt es nicht. Es existieren vielfältige Möglichkeiten der privaten Zusatzversicherung.

Auch in der Schweiz besteht Krankenversicherungspflicht für alle. Die Beiträge sind unabhängig vom Einkommen pro Kopf gleich hoch, eine kostenlose Mitversicherung von Familienmitgliedern gibt es nicht. Die etwa neunzig privaten Krankenkassen des Landes müssen alle eine gleiche, gesetzlich festgelegte Grundsicherung anbieten, konkurrieren aber um Mitglieder durch möglichst niedrige Tarife. Alle Versicherer bieten Zusatzversicherungen an.

Auch in Frankreich ist die Krankenversicherung Pflicht für alle. Die Krankenkassenbeiträge werden von Arbeitnehmern und Arbeitgebern anteilig bezahlt, Defizite werden mit Steuermitteln ausgeglichen. Versicherte zahlen ihre Arztrechnungen zunächst selbst und reichen sie anschließend bei ihrer Krankenkasse zur Erstattung ein. Dabei bestehen Eigenbeteiligungen  bis zu 25 Prozent, weswegen die meisten Franzosen private Zusatzversicherungen abschließen.

Auch in den Niederlanden besteht Krankenversicherungspflicht. Das System ist rein privatwirtschaftlich, aber die Leistungen der etwa 40 privaten Krankenkassen sind gesetzlich genau festgelegt, sodass darüber keine Konkurrenz aufkommen kann. Kinder sind kostenlos mitversichert, Partner hingegen nicht. Alle Versicherten zahlen einen gleich hohen Beitrag, der gesetzlich festgelegt ist. Wegen hoher Selbstbeteiligungen sind private Zusatzversicherungen weit verbreitet.

Auch in Dänemark ist das Gesundheitssystem für alle Bürger*innen verbindlich. Hier ist es rein staatlich, die Finanzierung geschieht aus Steuergeldern. Wer in Dänemark wohnt oder steuerpflichtig ist, ist automatisch krankenversichert. Medizinische Behandlungen und häusliche Pflege sind für alle Versicherten kostenlos. Private Vollversicherungen gibt es nicht, nur Zusatzversicherungen zur Abdeckung der Eigenbeteiligungen.

Auch in Italien ist das Gesundheitssystem für alle in staatlicher Hand. Es wird aus Steuermitteln und Arbeitgeberbeiträgen finanziert. Die medizinische Grundversorgung ist für alle kostenlos. Private Krankenversicherungen gibt es nicht, nur Zusatzversicherungen.

Deutschland ist also das einzige Land weit und breit, das einem Zehntel seiner Bevölkerung die Möglichkeit einräumt, sich mit der privaten Krankenversicherung aus dem Solidarsystem zu verabschieden. Dafür gibt es keinen vernünftigen Grund. Sämtliche unserer Nachbarländer machen das vor. Eine Überwindung unseres zweigeteilten Systems würde zwar einige Probleme aufwerfen, aber diese sind alle lösbar, dafür braucht es nur etwas Zeit und kluge Übergangslösungen. Ärztekammern, Kassenärztliche Vereinigungen und der Beamtenbund malen das große Arztpraxissterben an die Wand, wenn den Ärzt*innen die privaten Einnahmen wegbrechen. Aber die ärztlichen Einkommen wären in keinerlei Gefahr, denn bislang Privatversicherte würden stattdessen sogleich entsprechende Zusatzversicherungen abschließen.

Eine Illusion sollte man aber nicht haben: Mit der Abschaffung der Zwei-Klassen-Krankenversicherung wird man die Abschaffung der Zwei-Klassen-Medizin nicht erreichen. Dazu müsste man zuerst die Klassengesellschaft abschaffen.

Bernd Hontschik

Bernd HontschikDr. med. Bernd Hontschik, geboren 1952 in Graz, war bis 1991 Oberarzt an der Chirurgischen Klinik des Städtischen Krankenhauses Frankfurt-Höchst und bis 2015 in eigener chirurgischer Praxis mitten in Frankfurt tätig. Hontschik ist Autor des Bestsellers »Körper, Seele, Mensch«, Herausgeber der Reihe »medizinHuman« im Suhrkamp Verlag und Kolumnist der Frankfurter Rundschau. Er ist langjähriges Vorstandsmitglied der »Thure-von-Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin«, Beirat der Akademie Menschenmedizin und der Zeitschrift Chirurgische Praxis. Im Westend Verlag erschienen zuletzt »Erkranken schadet Ihrer Gesundheit« (2019) sowie, gemeinsam mit Claudia Hontschik, »Kein Örtchen. Nirgends« (2020). Hontschik lebt in Frankfurt am Main.

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