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Griechenland – Ein Lagebericht vom 4.3.2016

Als ob kein Tag vergangen wäre: „Griechenland kann nicht..“, „Die Griechen sind nicht im Stande…“, „Die Griechen verlangen…“, „Sie haben die Kontrolle verloren…“. Das gleiche Spiel wie im vergangenen Jahr, vor dem Putsch von 12. Juli: „Griechenland liefert nichts..“, „Es werden keine Reformen gemacht..“ und von „Macht eure Schullaufgaben…“ möchte ich gar nicht sprechen.

Genauso wie damals, haben wir es nicht mit einem griechischen Fall zu tun, sondern mit dramatischen internationalen und europäischen Angelegenheiten. Die Wirtschaftskrise war und ist eine kapitalistische Systemkrise und die Flüchtlingsfrage ist ebenso ein großes internationales Problem, ausgelöst durch Krieg, Ausbeutung und Armut. Es ist doch einmal mehr erstaunlich, dass bei der ganzen öffentlichen Debatte die tieferliegenden Ursachen diese Tragödie eigentlich gar nicht diskutiert werden. Zufall? Sicher nicht, denn die Ursachen dieser gigantischen Völkerbewegung liegen ja für jeden sichtbar nur vordergründig in den Herkunftsländern dieser armen Menschen. In Wahrheit sind sie hier bei uns, in der EU und bei den USA zu suchen. Das muss vertuscht werden, eindeutig, und deswegen muss schnell ein Sündenbock her. Und der ist für viele, zum Glück nicht für alle, schon gefunden: Griechenland.

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Wie aber sieht nun die Realität aus? Zunächst einmal haben wir es mit der größten Menschenbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg zu tun. Auch damals versuchten die Menschen in Europa Krieg und Hungerstod zu entfliehen. Kein Land, und die EU insgesamt auch nicht, war auf so etwas vorbereitet. Griechenland inbegriffen. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: 2014 sind 41.074 Flüchtlinge und Emigranten nach Griechenland gekommen, 2015 schon 851.319, das bedeutet eine Steigerung von sagenhaften 1.972 Prozent, die hauptsächlich über das Meer flohen. 805 Personen sind bislang bei diesem Versuch Krieg und Terror zu entkommen ertrunken. Auf Lesbos, das 85.412 Einwohner zählt, strandeten 500.018 Geflüchtete, mithin gab es fortan auf der Insel 585 Prozent mehr Flüchtlinge als Einwohner. Zum Vergleich: Frankfurt am Main hat rund 700.000 Einwohner. Binnen weniger Wochen hätte Frankfurt, zumindest kurzfristig, also über 4 Millionen Menschen versorgen müssen. Über Agathonisi, eine Insel mit 316 Einwohnern, gelangten 31.089 nach Griechenland, also 9.838 Prozent mehr Geflüchtete als Einwohner. Über Italien flohen 2015 153.600 Menschen (2.892 starben dabei) und über Spanien 3.845 (74 starben).

In erster Linie müssen Menschen aus dem Meer gerettet werden. Punkt. Heute noch, jeden Tag und jede Nacht, bei jedem Wetter. Die Inselbewohner und die Behörden haben über 104.000 in akute Lebensgefahr Geratene aus dem Meer gerettet – allein in 2015. NGOs und internationale Helfer spielten dabei auch eine wichtige Rolle. Aber ohne die wirklich großartige solidarische Hilfe der griechischen Bevölkerung hätte diese Herausforderung nicht gemeistert werden können. Und diese gilt bis heute in ganz Griechenland.

Und die EU? Die internationalen Organisationen? Zunächst haben sie sehr überrascht reagiert, ja, geradezu hilflos. Erst am 15. Oktober gibt es einen EU-Gipfel der nichts anderes beschließt, als der Türkei 3 Milliarden Euro „Unterstützung“ anzubieten, mit der Hoffnung, dass Erdoğan den Flüchtlingsstrom etwas reduziert. Tatsächlich verzeichnete Griechenland 211.633 (+2.748 Prozent) neue Ankünfte im Oktober, 151.249 (+3.868 Prozent) im November und 103.338 (+4.926 Prozent) im Dezember. Und genauso geht es in diesem Jahr weiter. Der siebzehn Punkte umfassende sogenannte Aktionsplan der EU sieht unter anderem vor, dass fünf Registrierungstrukturen – Hotspots genannt – in Griechenland eingerichtet werden. Über sie will man 160.000 registrierte Flüchtlinge umsiedeln. Bis dato sind 82 Personen aus Griechenland und 190 aus Italien umgesiedelt worden, denn, wie bekannt, weigern sich die meisten EU-Staaten, Flüchtlinge aufzunehmen. Kommissionspräsident Juncker wetterte im November in Malta: „Bei diesem Tempo wird die Umverteilung von 160.000 Personen bis 2101 dauern.”

Kein politisches Handeln weit und breit. Einige Balkanländer überließen ihren Polizeichefs die Verantwortung. Diese entschieden die nordgriechische Grenze abzuriegeln und siehe da, die Diskussion um Schengen, und eine mögliche Ausschließung Griechenlands wurde in ganz Europa laut. Die Lage spitzte sich zu, als die österreichische Regierung die Diskussion um die Obergrenzen eröffnete und gleichzeitig bei einer diplomatisch total unverständlichen Aktion, der Einberufung einer Westbalkankonferenz, die Balkanstaaten ermutigte, die sogenannte Balkanroute zu schließen.

Aber nicht nur in Österreich, auch in Deutschland geht die Diskussion über Obergrenzen laut weiter. Frau Merkel scheint ziemlich allein gelassen mit ihrer verhältnismäßig richtigen Position. Nur Partei DieLinke und Griechenland sprechen immer noch von einer solidarischen und europäischen Lösung. Alle anderen, vor allem die Parteien in Österreich und auch in Deutschland, betrachten diese Frage rein innenpolitisch. Man muss ja an kommende Wahlen denken, statt eine wirkliche Lösung des Problems zu suchen. Mit anderen Worten: Die verantwortlichen Politiker nationalisieren eine explizit internationale Problematik, weil sie dem Druck rechtspopulistischer und faschistischer Parteien nicht standhalten können. Ihr Kalkül aber, dass sie mit der Übernahme dieser rassistischen Agenda einen Rechtsruck verhindern, geht nicht auf und wird auch nicht aufgehen. Im Gegenteil: Ganz offensichtlich trägt dieses Verhalten dazu bei, dass sich der gesamte öffentliche Diskurs nach rechts bewegt und rechtspopulistische und rassistische Parteien weiterhin Zulauf verzeichnen. Das ist im Falle der ÖFP in Österreich so und in erschreckenden Ausmaßen auch mit der AfD in Deutschland. Leider hat sich in dieser Situation die Sozialdemokratie hoffnungslos verfangen. Anstatt eine solidarische und soziale Agenda voranzutreiben, gleitet sie immer weiter in Richtung Xenophobie. Krasses Beispiel: Österreichs Bundeskanzler Faymann, der sich als bester Freund der griechischen Regierung gab und selber auf Lesbos war, wo er sich ein eigenes Bild der Lage machen wollte, wird jetzt von seinen konservativen Ministern Kurz und Mikl-Leitner an der Nase herumgeführt.

Griechenland ist im Moment das einzige Land, das seine Verpflichtungen einhält. Die Hotspots sind fertig, die Registrierung funktioniert belegbar (Hier finden Sie die Daten). Die Regierung, die Behörden, vor allem aber auch das Militär, die Küstenwache und die Polizei sind rund um die Uhr im Einsatz, um dieser großen Herausforderung zu begegnen. Ohne die außerordentliche solidarische Unterstützung der Bevölkerung und der Kommunen wäre allerdings die menschenwürdige Aufnahme der Geflüchteten nicht möglich. Freiwillige Helfer und NGOs tun ihr Übriges. „Eine Krise braucht immer ihre Zeit“ sagte uns heute Migrationsminister Mouzalas. „Allen internationalen Krisen, in denen NGOs, die UNO das Rote Kreuz und andere involviert sind, muss eine gewisse Zeit gegeben werden. Das haben wir bei Katrina in den USA gesehen, bei Calais in Frankreich und bei allen anderen Krisen weltweit. Es dauert eine Zeit, bis die harte Kritik beginnt“.

„In diesen Tagen sind fast 30.000 Menschen in ganz Griechenland in diversen Einrichtungen untergebracht“, sagte uns Dimitris Vitsas, stellvertretender Minister für Verteidigung. „Das Militär verteilt 13.500 bis 14.000 Essen am Tag“, fügte er hinzu. Wenn die Grenzen dicht bleiben, wird diese Zahl bald auf siebzig- bis einhundertausend steigen. Das entspricht nicht den EU-Vereinbarungen. „Wir dürfen kein Lager für Menschenseelen werden“, wie kürzlich Alexis Tsipras sagte. Solidaritätsministerin Theano Fotiou hat die Beteiligung der Bevölkerung mit dem Widerstand gegen die Nazis verglichen: „Europa scheint das erste Mal nach dem Krieg seine Werte zu vergessen, Griechenland aber ist verpflichtet, eine doppelte soziale Krise zu bewältigen, ohne die Betroffenen gegeneinander auszuspielen“. 2015 hat Griechenland die gegenwärtigen Flüchtlingsströme mehr als 350 Millionen Euro gekostet. Das Land hat von der EU als Unterstützung sagenhafte 27 Millionen erhalten. Die UNHCR, also das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen, hat ganze vier Millionen Euro springen lassen.

Der EU-Gipfel am 7. März ist nicht weit. Tsipras verlangt, dass jedes EU-Land entsprechend seiner Einwohnerzahl und Wirtschaftskraft Flüchtlinge aufnimmt. Jedes, ausnahmslos. Dann würde auch deutlich, welche Leistung Griechenland bereits jetzt erbringt. Auch die Türkei muss ihren vereinbarten Pflichten nachkommen. Dieser Gipfel ist die letzte Möglichkeit, eine humanitäre Katastrophe zu verhindern.

Griechenland ist auch für das schlechteste Szenario vorbereitet: dass es nämlich in den kommenden Wochen mit 70.000 bis 100.000 Menschen allein bleibt. Wir werden diese Menschen so gut wie möglich aufnehmen. Das Projekt Europa aber ist somit am Ende. Können sich das die Europäer leisten? Wir werden sehen.

Giorgos Chondros

Giorgos ChondrosGiorgos Chondros, Jahrgang 1958, ist Ethnologe und Umweltpolitiker. Als Gründungsmitglied der griechischen Regierungspartei Syriza hat Chondros die Schuldenkrise seines Landes und die Verhandlungen mit den internationalen Geldgebern von Anfang an begleitet. Aus erster Hand kann er berichten, wie eine entwickelte Industrienation binnen weniger Jahre an den Rand des Ruins getrieben wurde.

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