Freihandel reimt sich auf Frieden? Politische Propaganda par excellence
Jean-Claude Juncker hat mit seinem jüngsten Vorschlag für breite Empörung gesorgt, als er forderte, das Freihandelsabkommen CETA zwischen der EU und Kanada an den nationalen Parlamenten vorbeizuschleusen. Ein Bärendienst für die EU und die Demokratie – in einer Zeit, in der das Vertrauen in die Brüsseler Bürokratie sowieso schon im Keller ist, und bei einem Thema, das wie kaum ein zweites für Wirtschaftsinteressen, Lobbyismus und Aushöhlung der Demokratie steht. Stephan Hebel zeigt die Folgen von Freihandelsabkommen ein Auszug aus dem Buch „Gute-Macht-Geschichten“ .
Freihandel ist „ein System, bei dem verschiedene Länder ohne die Einschränkung durch Zölle oder Steuern Handel miteinander treiben können“. Der Schriftsteller John Lanchester verbindet diese treffende Definition in seinem Buch „Die Sprache des Geldes und warum wir sie nicht verstehen (sollen)“ mit dem Hinweis: „Im Augenblick ist der Freihandel eher noch ein angestrebtes Ziel als ein voll ausgereiftes System.“
Tatsächlich klingt der Begriff, wie so viele andere Kombinationen mit dem Wort „frei“, zunächst unangreifbar positiv. Und die herrschende Meinung in der Politik tut alles, um auf diese Ausstrahlung keinen Schatten fallen zu lassen. Vorneweg der Poet des Wirtschaftsliberalismus an der Spitze unseres Staates, Joachim Gauck, der vor lauter Begeisterung bei seiner Rede auf der Sicherheitskonferenz 2014 ins Dichten gerät: „Im außenpolitischen Vokabular reimt sich Freihandel auf Frieden und Warenaustausch auf Wohlstand.“
Wer wollte da noch widersprechen? Im Prinzip wahrscheinlich niemand. „Fairer Freihandel nutzt allen, gerade in einer so exportorientierten Volkswirtschaft wie Deutschland“, schreibt zum Beispiel Thilo Bode, Geschäftsführer der Verbraucherschutzorganisation Foodwatch, der alles andere ist als ein Prophet des Neoliberalismus. Allerdings hat es sich inzwischen herumgesprochen, dass die Gleichung zwischen Freihandel und Frieden beziehungsweise Warenaustausch und Wohlstand so einfach nicht aufgeht, wie der Bundespräsident glaubt. Die Freihandelspolitik, so wie die großen Wirtschaftsmächte sie betreiben, sieht sich nicht zuletzt in Deutschland, aber auch in anderen Ländern Europas heftigem Gegenwind ausgesetzt – vor allem dank des breiten gesellschaftlichen Widerstands gegen das von EU und USA geplante transatlantische Freihandelsabkommen TTIP sowie den entsprechenden Vertrag der Europäischen Union mit Kanada, CETA. Thilo Bode lässt deshalb seinem prinzipiellen Bekenntnis zum Freihandel den treffenden Hinweis folgen: „Aber bei dem geplanten TTIP-Abkommen geht es eben um viel mehr als um die Senkung von Zöllen oder die Angleichung von technischen Standards wie Schraubenlängen oder Blinkerfarben. TTIP ist nichts weniger als ein Angriff auf unsere Demokratie.“
Ohne hier in die Einzelheiten zu gehen, lässt sich die Kritik an der herrschenden Freihandelspolitik in zwei zentralen Punkten zusammenfassen.
Erstens: Die Möglichkeit der Staaten oder Staatenbundnisse (EU), sich auf demokratischer Grundlage notfalls gegen wirtschaftliche Interessen für das Gemeinwohl zu entscheiden, wird nach der Logik von Abkommen wie TTIP und CETA zum „politischen Risiko“ für Unternehmen, das so weit wie möglich ausgeschaltet werden muss. Schon von ihrem Ansatz her stellen diese Vertragswerke also das Recht auf politische Regulierung und Sicherung der Daseinsvorsorge infrage. Sie erschweren die Regelsetzung etwa im sozialen, ökologischen oder kulturellen Bereich, weil sie Regulierung von vornherein als Einschränkungen des angestrebten Freihandels definieren. In den Blick und die Kritik geraten ist hier vor allem das System der „regulatorischen Kooperation“ unter den Vertragsparteien. Regulatorische Kooperation bedeutet, dass gesetzliche Regelungen durch ein demokratisch nicht legitimiertes Gremium auf ihre Folgen für den Freihandel überprüft werden sollen. Kurz gesagt: „ein Freifahrtschein für Lobbyisten“ (Zacharias Zacharakis auf ZEIT online).
Natürlich schworen die Befürworter der Freihandelsabkommen Stein und Bein, die Sorgen seien unberechtigt: „Handelskommissarin Cecilia Malmström hat wiederholt ihre Entschlossenheit betont, die Daseinsvorsorge in Handelsabkommen zu schützen“, heißt es zum Beispiel in einem Papier der EU-Generaldirektion Handel, also des Malmström-Ressorts. Allerdings zeigen die Beispiele anderer Freihandelsabkommen, wie das dann konkret aussehen kann. So wies der Publizist Werner Rügemer anhand des Vertrages zwischen den USA und elf pazifischen Ländern (TPP) nach, wie wichtige Arbeitnehmerrechte mit einer „trickreichen Täuschung“ ausgenommen wurden (Gegenblende 12/2015). Das Abkommen bezieht sich zwar auf eine „Erklärung“ der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, in der einige Standards zum Schutz der Beschäftigten genannt sind: Vereinigungsfreiheit und Recht auf Tarifverträge, Verbot von Zwangs- und Kinderarbeit sowie Diskriminierung am Arbeitsplatz. Allerdings bleibt diese „Erklärung“ damit weit hinter den acht „Kernarbeitsnormen“ der ILO zurück, von denen die USA auch nur zwei ratifiziert haben. Rügemer nennt als Beispiel unter anderem das Verbot, Häftlinge für den Profit privater Unternehmen arbeiten zu lassen: „Die USA haben diese Norm nicht ratifiziert, weil sie ihren Gefängnis-Industriekomplex aufrechterhalten.“
Der sparsame Umgang mit Arbeitnehmerrechten verwundert nicht, wenn man weiß, dass Freihandelsabkommen eine reale Bedrohung für Arbeitsplätze darstellen können. So kam eine Studie der US-amerikanischen Tufts University zu dem Schluss, dass in der EU durch TTIP entgegen den Prognosen der Befürworter knapp 600.000 Jobs verlorengehen könnten (Deutsche Wirtschafts Nachrichten, 14.11.2014).
Eine kurze Erwähnung im Zusammenhang mit den Bedrohungen der Daseinsvorsorge verdient schließlich das Prinzip der „Negativlisten“: Sie enthalten die Branchen und Bereiche, die von der „Liberalisierung“ ausgenommen, also von der öffentlichen Hand auch in Zukunft selbst betrieben oder unter bestimmten Beschränkungen ausgeschrieben und damit vor der Marktkonkurrenz geschützt werden sollen. Allerdings: Was nicht auf der Negativliste steht, unterliegt in Zukunft der vollen Marktkonkurrenz. „Durch eine Negativliste ist automatisch auch alles liberalisiert, was in Zukunft erfunden wird“, sagt Julien Laflamme, Ökonom beim Verband der nationalen kanadischen Gewerkschaften CSN. „Stellen Sie sich vor, so ein Vertrag wäre vor 150 Jahren abgeschlossen worden und was das für die Entwicklung von damals noch nicht erfundenen Bereichen wie der Telekommunikation bedeutet hätte.“
Der zweite Kritikpunkt, der in der öffentlichen Debatte bisher keine ganz so große Rolle spielt, bezieht sich vor allem auf Freihandelsabkommen zwischen ökonomisch unterschiedlich starken Regionen, also zum Beispiel zwischen Europa und afrikanischen Ländern. Die EU hat in den vergangenen Jahren mit einer großen Zahl von ihnen sogenannte „Economic Partnership Agreements“ (EPA) vereinbart. Sie dienen dem Zweck, „der Region privilegierten Zugang zum europäischen Binnenmarkt zu gewähren und – reziprok – den westafrikanischen Markt teilweise für europäische Ausfuhren zu öffnen“, schreibt das deutsche Außenministerium etwa zum Vertrag mit der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS. Hinter diesen Freihandler-Floskeln steckt übrigens eine erstaunliche europäische Geschichtsvergessenheit: Manche Europäer, vorneweg das heute so freihandelsbegeisterte Großbritannien, haben sich den Weg von der Agrar- zur Industriegesellschaft selbst durch rigide Zölle und Abgaben freigekämpft.
Was der Freihandel unter ökonomisch Ungleichen für ein Land wie Ghana bedeutet, steht nicht in der Länderinfo des Auswärtigen Amts, aber erfahren kann man es trotzdem. So beschrieb Alexander Göbel in einem Rundfunkbeitrag anschaulich, wie einheimische Geflügelbauern aufgeben müssen, weil sie bei den Billigpreisen der europäischen Importware nicht mithalten können (die übrigens auch deshalb so günstig ist, weil es sich bei Schenkeln und Flügeln um Reste handelt, die der Hühnerbrust-Freund im reichen Norden nicht haben will). Dass die afrikanischen Staaten ihre eigene Produktion nicht mehr durch Zölle auf solche Importe schützen können – genau das ist das Ziel der „Freihandels“-Abkommen. Für das ostafrikanische Kenia, das „sein“ EPA zunächst verweigerte und erst nach der Verhängung von Strafzöllen durch die EU unterzeichnete, wird der drohende Verlust auf „weit über 100 Millionen Euro jährlich“ geschätzt.
Dreimal dürfen Sie raten, ob angesichts dieser Verhältnisse künftig mehr oder weniger Afrikaner nach Europa flüchten – um sich von denselben Politikern, die diese Art „Freihandel“ befördern, als „Wirtschaftsflüchtlinge“ wieder nach Hause schicken zu lassen.