/Kommentare/Familiendrama als „Schurkenstück“

Familiendrama als „Schurkenstück“

Sieben Jahre nach dem Tode von Rudolf Augstein gibt im November 2009 dessen ältester Sohn Jakob erstmals Martin Walser als seinen leiblichen Vater preis und erklärt den bisherigen zu seinem gesetzlichen Vater. In den „Keitumer Gesprächen“ umkreist Gisela Stelly Augsteins literarisch-poetischer Text die Neuvermessung der Familien Augstein und Walser und die Frage, wer wann wusste, wer der Vater von Jakob Augstein ist, und wer nicht. Und unvermittelt entwickelt sich aus dieser Klage des entleibten Vaters (Rudolf Augstein) ein veritables Bühnenstück – halb Tragödie, halb Komödie.

 Im „Stern“-Interview, das Anfang Juli erschienen ist, antwortet Gisela Stelly Augstein auf die Frage, warum sie jetzt literarisch, aber trotzdem furchtbar, mit einem Teil der Patchwork-Familie abrechne: „Abrechnung ist nicht mein Motiv, es geht mir um Einsicht in den familiären Wirrwarr und seine Auflösung. Ich habe lange gezögert. Es gab quasi ein inneres Verbot. Obwohl so viel passierte, was mich aufbrachte, was mich schockierte.“ Was sie dann doch veranlasst habe, es zu schreiben? „Im Februar 2015 bin ich in Berlin aus der S-Bahn ausgestiegen und da hing ein Werbeplakat des ‚Spiegel‘. Ich sah direkt in die Augen von Rudolf. Augstein als junger Mann, eine Lichtfigur mit diesen beiden schwarzen Polizisten im Hintergrund, darunter stand groß weiß auf schwarz: ‚Keine Angst vor der Wahrheit‘. Das war wirklich wie eine Initiation. Da wusste ich, du darfst keine Angst vor der Wahrheit haben.“

 Ein Tipp für alle Sylt-Urlauber: Am Di., den 24.7., findet um 11 Uhr in der Buchhandlung Voss in der Friedrichstraße 27 eine Signierstunde mit Gisela Stelly Augstein statt. Und am Fr., den 10.8., 20 Uhr, eine Lesung mit Diskussion im Keitumer Gemeindehaus. Als kleiner Appetithappen hier ein Auszug:

 

Doch dann stand es plötzlich fast auf den Tag genau sieben Jahre nach seinem Ableben im November 2009 in der Zeitung. In einem Nebensatz. Wie eine Nebensache. Wie nebenbei gesagt von seinem Ältesten. Ein nebenbei gesagter, nebensächlicher Nebensatz. Durch den sich unser Resident ganz nebenbei entleibt sah. Es war eine Art Mord. Vatermord. Bei gleichzeitiger Transformation, denn er sah sich wie Gregor Samsa, wenn auch nicht auf dem Rücken liegend und mit den Beinchen zappelnd in einen Käfer, so doch in etwas verwandelt, das sich wie eine von höchster Instanz verhängte Strafe anfühlte: in einen sogenannten »gesetzlichen Vater«!

Sein leiblicher Vater ist Martin Walser, sein gesetzlicher Vater ist Rudolf Augstein, erklärte sein Ältester der Frankfurter Rundschau.

Das sei der Startschuss für die »Rallye of Destruction« des Ältesten gewesen … der Resident hält kurz inne. Keinesfalls werde er dem Nachbarn an der Wattseite nun von seiner Seelenqual infolge seiner Entleibung berichten, versichert er dann schnell, zeitlebens wollte er »es wagen, lachend die Wahrheit zu sagen«. Und so wolle er es auch jetzt wieder halten, obwohl er an diesem Tag im November, dem Tag seiner Entleibung, auch noch an gleicher Stelle erfuhr, dass sie, diese beiden Väter, befreundet waren und ihr Wissen teilten. Oh je, eine Wolldecke der Freundschaft wurde über ihn geworfen, unter der er jahrzehntelang gehockt und im gänzlich verschwiegenen Geheimbund mit dem Leiblichen das Wissen von dessen Leiblichkeit geteilt haben soll! Tollkühne, tolldreiste Dinge müssten sich dort unter dieser Wolldecke der Freundschaft abgespielt haben, der Leibhaftige müsse es gewesen sein, der ihm die Feder führte, als er in seinen testamentarischen Verfügungen seine eigenen Kinder überging und dem Sohn des Leiblichen die herausgehobene Position übertrug und damit den Grundstein legte für das familiäre Hurlyburly! Ein Teufelsbraten muss er gewesen sein, fürwahr! »Wenn es denn wahr wäre … du kennst eine andere Version, Fritzchen? Kannst du das wiederholen, ich verstehe dich so schlecht … um ihn vor meinen eigenen Kindern zu schützen? Falls sie einmal herausfinden sollten, er ist nicht mein Sohn und nicht ihr Bruder? Um ihn vor meinen eigenen Kindern zu schützen, habe ich dem Ältesten die Macht gegeben? Habe ich das richtig verstanden … da hat man dir aber einen ziemlich großen Bären aufgebunden, Fritzchen, da lachen ja selbst die Hühner!«

Was aber meint denn nun, von den neugierigen Medien befragt, das frischgebackene Elternpaar? Wie äußert es sich zur öffentlichen Geburtsanzeige seines mittlerweile zweiundvierzig Jahre alten Babys?

Nun, es sagt erstaunlich wenig. Doch das Wenige genügt, um die öffentliche Neugier schnell versiegen zu lassen, scheint es sich doch wohl um ein von den Beteiligten verabredetes, ganz und gar einverständliches Stillschweigen gehandelt zu haben.

»Die Beteiligten haben bisher den Mund gehalten.« So die Mutter zur Bild. Wer diese Beteiligten sind, verrät sie nicht, lässt jedoch einschränkend wissen, ihr Sohn sei kein Beteiligter, erst nach dem Ableben des gesetzlichen habe sie ihn über seinen leiblichen, seinen richtigen Vater informiert. Nun habe er es hinausposaunt, sich damit jedoch keinen Gefallen getan, denn bisher sei er der Sohn des großen Verlegers gewesen  – und jetzt?

Bunte gegenüber zeigt der Leibliche im Gegensatz zur Mutter Verständnis für das Outen seines Sohnes und outet sich in der Bild am Sonntag. Er erinnere nicht, seit wann er um seine Vaterschaft wisse, es liege schon so lange zurück.

Anschließend widerspricht keiner der beiden hinausposaunten Beteiligten dem mit viel spekulativer Phantasie aufgeladenen Reim, den sich die Medien aus ihren wenigen und knapp formulierten Sätzen machen. Keiner der beiden widerspricht etwa der medialen Feststellung einer langen und innigen Freundschaft der Väter. Oder der Behauptung eines verschwiegenen, ganz und gar einverständigen Dreierbunds der Väter mit der Mutter, den Sohn des Leiblichen dem anderen zu überlassen. Oder der Behauptung, der sogenannte Gesetzliche habe den Sohn des Leiblichen adoptiert  – keiner der Beteiligten, wer auch sonst noch von der Mutter als Beteiligter gemeint sein mag, widerspricht jemals. Auch nicht der Dreistigkeit, die ihm, dem sogenannten Gesetzlichen, den Atem verschlägt, hätte er denn noch einen, mit welcher er in den Medien dem Club der Beteiligten als Wissender zugeschlagen wird. Drei oder vier Sätze der Mutter zu Bild, drei oder vier Sätze des Leiblichen zu Bunte, danach halten die Beteiligten wie bisher den Mund.

Und keiner aus der umfänglichen Familiengemeinde, der widerspricht?

Wie steht es im Struwwelpeter? »Und [sie] blickte stumm. Auf dem ganzen Tisch herum.«

Kurz zuvor noch bemerkte sie beglückt die große Ähnlichkeit der Kinder seines Ältesten mit ihm, dem verstorbenen Großvater, jetzt ist sie sprachlos.

»Auch du, lieber Fritz«, wendet sich unser Resident wieder an den neuen alten Nachbarn, »auch du hieltest es für ratsamer zu schweigen, obwohl du doch deinem Tagebuch anvertraut hattest, bereits seit des Knaben viertem Lebensjahr von der Mutter in die wahre Leiblichkeit eingeweiht gewesen zu sein …«

Er wird vom beginnenden Läuten der Kirchenglocken unterbrochen. Es ist nicht das übliche Geläute, es ist der volle Sound des gesamten Glockenspiels, der in die Stille des Keitumer Gottesackers einbricht und sich weit über den Ort und auf das Meer hinausschwingt, er kündet von Ostern, von der Auferstehung Jesu Christi im Fleische!

Oh, wie mächtig steigt jetzt mit dieser Ankündigung der Auferstehung im Fleische in ihm, dem Entleibten, der Wunsch auf, dem enttarnten Elternpaar leibhaftig zu begegnen. Und tatsächlich, unter dem Geläute der Osterglocken verleiht dieser heiße Wunsch seiner Seele Flügel, und er sieht sich, über eine Brücke von Raum und Zeit hinweg, im Jahre 2009, dem Jahr der Veröffentlichung, in seiner Heimatstadt. In bekannter Umgebung. Sieht, wie er über den langen, scheinbar frei schwebenden Steg geht, der ihm, bevor er im rechten Winkel abknickt und den Gast zum Restaurant geleitet, von weit oben einen Schwindel erregenden Ausblick über den breiten Elbstrom gewährt. Er sieht sich innehalten und über die Wipfel der Bäume und den Fluss hinweg auf die Hafenanlagen am anderen Ufer spähen. Es ist noch früher Abend, die Lichter spiegeln sich im glitzernden Wasser, dann steigt Novembernebel auf, und seltsame Gestalten treten hervor, sie bewegen sich aufeinander zu, entfernen sich wieder, andere erscheinen: Da erwacht seine Dramatiker-Seele: Wer, wenn nicht er, der leidenschaftliche Stückeschreiber von einst, ist berufen, das geheime Drama seines Lebens, in dem er zeit seines Lebens als unwissender Tor herumgestolpert ist, in Szene zu setzen, sei es als Tragödie oder Komödie? Kurzerhand betritt er das ihm vertraute Restaurant und erklärt es, von seiner Dramatiker-Seele beflügelt, zu seinem Bühnenraum. Hier sollen sie sich einfinden, die Mitspieler in seinem Drama, von ihm in Szene gesetzt »nach dem Leben«. Und da sitzt sie auch schon an einem der Tische für zwei oder auch vier Personen in einer der Nischen im Halbdunkel am Fenster!

Sie ist allein. Sie, die Mutter seiner Kinder.

Gisela Stelly Augstein

Gisela Stelly AugsteinGisela Stelly Augstein ist im Berlin der fünfziger und sechziger Jahre aufgewachsen und war von 1972 bis 1991 mit dem Spiegel-Gründer Rudolf Augstein verheiratet. Sie hat für die Zeit geschrieben, Filme gedreht (Buch und Regie) und ist Romanautorin (zuletzt "Goldmacher", Arche Verlag 2012). Sie lebt in Hamburg und Berlin. www.giselastelly.de

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