„Es ist gut, dass sie gehen“
Nun sind auch die US-Soldaten aus Afghanistan abgezogen. „Es ist gut, dass sie gehen“, sagen nicht wenige Stimmen dort. In seinem Buch „Der längste Krieg – 20 Jahre War on Terror“ beschreibt der Journalist Emran Feroz diesen Krieg nun erstmals aus afghanischer Perspektive. Er hat mit vielen Menschen vor Ort gesprochen: von Hamid Karzai über Taliban-Offizielle bis zu betroffenen Bürgern, die unter diesem Krieg leiden. Ein Buch über die Gräuel eines verbrecherischen Krieges, das gleichzeitig einen völlig neuen Blick auf ein Land und seine Menschen ermöglicht.
Im Juli 2016 veröffentlichte die Obama-Administration erstmals ein dreiseitiges Papier, in dem es zu zivilen Opfern während des Drohnenkrieges Stellung nahm. Laut dem Schreiben fanden zwischen 2009 und 2015 473 Drohnenangriffe in Pakistan, Jemen und Somalia statt. Dabei sollen zwischen 64 und 116 Zivilisten getötet worden sein. Bei dem Rest – immerhin 2372 bis 2581 Menschen – soll es sich ausschließlich um »terroristische Kämpfer« gehandelt haben. Prompt meldeten sich einige Beobachter des Drohnenkrieges zu Wort und stellten richtigerweise fest, dass selbst konservative Schätzungen weit über den Zahlen des Weißen Hauses liegen. Kritisiert wurde nicht nur die nicht vorhandene Definition eines »terroristischen Kämpfers«, sondern auch der Umstand, dass Afghanistan, das am meisten von Drohnen bombardierte Land der Welt, von Obamas Regierung gar nicht erwähnt wurde. Zur Gegenüberstellung: Im Jahr 2017 konnte ich während einer zweimonatigen Recherche in Afghanistan dreißig zivile Drohnenopfer, die während der Amtszeit Obamas getötet wurden, lokalisieren und bestätigen. Meine Recherche fokussierte sich aufgrund begrenzter Ressourcen lediglich auf zwei Provinzen: Maidan Wardak nahe Kabul und Khost im Südosten des Landes. In Khost traf ich Abdul Hadi, einen jungen Mann, dessen Vater, Hajji Delay, im Mai 2014 durch einen Drohnenangriff getötet wurde. Das Drohnenteam zielte auf den Wagen Delays und drückte ab. Gemeinsam mit vier weiteren Insassen wurde der Taxifahrer getötet. Von ihren Körpern blieb fast nichts übrig. Selbst die Knochen der Opfer zerfielen zu Staub und Asche.
Als ich Abdul Hadi mit den Zahlen der US-Regierung konfrontierte, reagierte er etwas fassungslos. »Glauben die Menschen im Westen solchen Berichten?«, fragte er verwundert. Dann erzählte er, dass allein in seiner Heimatprovinz Khost Hunderte von Menschen in den Jahren durch amerikanische Drohnenangriffe getötet wurden. Die Hinterbliebenen der Opfer warten bis heute auf Gerechtigkeit und Entschädigungen. Dies war nicht bei allen Drohnenopfern der Fall. 2015 wurden zwei westliche NGO-Mitarbeiter, der Italiener Giovanni Lo Porto sowie der Amerikaner Warren Weinstein, von Al-Qaida-nahen Extremisten in der pakistanischen Region Waziristan nahe der afghanischen Grenze als Geiseln festgehalten. Die beiden Männer wurden gemeinsam mit ihren Geiselnehmern durch einen amerikanischen Drohnenangriff getötet. Im Jahr darauf wurde bekannt, dass die Familie von Lo Porto von der US-Regierung eine Entschädigungssumme von 1,3 Millionen Dollar erhält. Einige Medien berichteten sogar von drei Millionen Euro. Der Drohnenangriff auf Lo Porto und Weinstein wurden von zahlreichen internationalen Medien behandelt. Auch der damalige US-Präsident Barack Obama meldete sich zu Wort und sprach sein Bedauern sowie sein Mitgefühl aus. Bei Lo Portos Familie handelt es sich bis heute um die erste Familie eines Drohnenopfers, das von der amerikanischen Regierung finanziell entschädigt wurde. Währenddessen warten Abdul Hadi und andere afghanische Drohnenopfer vergeblich auf Entschädigungszahlungen. Zwischen 2015 und 2021 hat das US-Militär dafür gerade einmal zwei Millionen Dollar aufgewendet. Diese gingen hauptsächlich an Familien, die Opfer von US-Operationen geworden waren. Die Beträge, die an Opfer ausgezahlt wurden, schwanken zwischen 40.000 und lächerlichen 131 US-Dollar.
2021 besuchten mein Kollege, der Lokaljournalist Mohammad Zaman, und ich Abdul Hadi in Khost ein weiteres Mal. Der Abzug der NATO-Truppen stand damals schon fest. »Es ist gut, dass sie gehen. Sie haben viele Afghanen getötet, unschuldige Menschen wie meinen Vater«, sagte Abdul Hadi prompt, nachdem wir den Abzug ansprachen. Dann erzählte er uns, dass viele Menschen in Khost weiterhin Angst vor Drohnenangriffen hätten. Sie seien traumatisiert und verängstigt, sobald sie die unbemannten Fluggeräte sehen oder hören würden. Die Drohnenangriffe hätten allerdings massiv abgenommen, seitdem Washington den Abzugsdeal mit den Taliban im Februar 2020 unterzeichnet hat. Dies machen auch die bekannten Zahlen deutlich. Kurz nachdem Donald Trump 2017 ins Weiße Haus einzog, wurde ihm das tödliche Drohnen-Erbe der Obama-Administration praktisch auf dem Silbertablett serviert. Unter Trump nahmen die Drohnenangriffe weltweit zu. Bereits in den ersten Wochen wurden sie mindestens um das Zehnfache erhöht. In Afghanistan fand daraufhin eine zunehmende Eskalation des amerikanischen Luftkrieges statt. Allein im Jahr 2018 warf das US-Militär mindestens 7362 Bomben und Raketen über Afghanistan ab – damals ein absoluter Höchststand. Doch bereits in den ersten Monaten des darauffolgenden Jahres wurde noch einmal diese Zahl überschritten. 2019 fanden mindestens 7424 amerikanische Anschläge im Land statt, sprich, zwanzig Angriffe pro Tag. Hierbei handelt es sich bis heute um einen Höchststand, den Afghanistan seit Beginn des »War on Terror« nicht erlebt hat.
Die Folgen dieser Eskalation sowie die genaue Anzahl der zivilen Opfer ist bis heute nicht bekannt. Die Trump-Administration behauptete damals, dass man durch die Angriffe »Druck auf die Taliban« ausüben wolle, doch die meisten Opfer waren keine militanten Kämpfer, sondern Zivilisten. Im Mai 2021 wurde bekannt, dass es sich bei mindestens vierzig Prozent aller zivilen Opfer von US-Luftangriffen in Afghanistan um Kinder gehandelt hat. Konkret geht es hier um 1600 Kinder. Insgesamt wurden im genannten Zeitraum mindestens 2122 Zivilisten durch die Angriffe der NATO in Afghanistan getötet. 2020 fokussierte sich eine Gruppe von Journalisten auf zehn Luftangriffe, die zwischen 2018 und 2019 in Afghanistan stattfanden, und stellte dabei fest, dass mindestens 150 Zivilisten, darunter 70 Kinder, getötet wurden. Im Gegensatz zu vielen anderen »Ermittlern« – etwa der US-Regierung selbst – besuchten die Journalisten die Schauplätze des Geschehens und konnten detaillierte Eindrücke und Fakten sammeln. Ähnlich wie im Fall von Abdul Hadi oder anderen Drohnenopfern, denen ich in den letzten Jahren begegnet bin, behaupteten auch hier die Angehörigen der Opfer, dass sie weder eine Entschuldigung noch irgendeine Art der Entschädigung erhalten hätten. Stattdessen wurden ihre getöteten Familienmitglieder einfach als »Terroristen« abgestempelt. In sechs der zehn Fälle sprach das US-Militär selbst nach den Ergebnissen der Recherche weiterhin von »Selbstverteidigung«.
»Es ist in Afghanistan praktisch unmöglich, Zivilisten von bewaffneten Kämpfern zu unterscheiden. Jeder, der das Gegenteil behauptet, lügt. Wir haben jahrelang Menschen getötet, ohne ihre Identitäten zu kennen«, erzählt mir Lisa Ling im März 2021. Ling weiß, wovon sie spricht. Einst diente sie der US-Luftwaffe und war als Technikerin für die Wartung von bewaffneten Drohnen in Afghanistan zuständig. Ihr Fokus lag hauptsächlich auf jener Hardware, die an die unbemannten Fluggeräte angebracht wird, um Ziele mittels Funksignale zu lokalisieren. Doch aufgrund der zunehmenden Zahl ziviler Opfer in Afghanistan begann Ling, ihre Arbeit sowie den gesamten »War on Terror« zu hinterfragen. Sie kam zu folgendem Schluss: »Durch unseren Terror kreieren wir nur noch mehr Terror.« Daraufhin stieg sie aus dem Drohnenprogramm aus. Seitdem engagiert sie sich als Whistleblowerin und Kritikerin, die das Programm anprangert, für das sie einst gearbeitet hat. Dabei wägt Ling allerdings jedes Wort, das sie mit der Öffentlichkeit teilt, genaustens ab und lässt sich rechtlich beraten. Ansonsten könnte sie von der US-Regierung schnell als »Verräterin« verfolgt werden und im Gefängnis landen, ähnlich wie andere Whistleblower, die bereits Haftstrafen verbüßen. Im Juli 2021 wurde der Whistleblower Daniel Hale zu einer Freiheitsstrafe von 45 Monate Haft verurteilt. Hale gab geheime Dokumente zum Drohnenkrieg an den US-Journalisten Jeremy Scahill weiter. Drohnenangriffe wie jener, der Abdul Hadis Vater Hajji Delay auslöschte, sind für Ling alles andere als eine Überraschung. Ling zufolge haben sich derartige Dinge in den letzten zwanzig Jahren tausendfach in Afghanistan sowie in anderen Ländern, die vom »War on Terror« heimgesucht werden, ereignet.
Allein in Khost sollen sich laut Abdul Hadi und anderen Einwohnern, die ich in den letzten Jahren interviewt habe, Hunderte von Drohnenangriffen stattgefunden haben. Dass es in Afghanistan viele Menschen wie Abdul Hadi gibt, die die Amerikaner und ihre Verbündeten nicht als »die Guten« sehen und sich stattdessen über deren Abzug freuen, geht auch in diesen Tagen in der westlichen Berichterstattung unter. Stattdessen will man sich weiterhin als Heilsarmee darstellen, die aufgrund der »Barbaren« versagt hat und nun abziehen muss. Orientalistische und rassistische Narrative werden in diesem Kontext weiterhin aufrechterhalten. Dabei sollte es keine Überraschung sein, dass die Opfer des »War on Terror« für die amerikanischen Soldaten und ihre Verbündeten wenig bis gar keine Sympathien empfinden und diese in erster Linie für ihr Leid verantwortlich machen. »Ich hoffe sehr, dass wir Afghanen miteinander Frieden schließen und unser Land zur Ruhe kommt«, sagt Abdul Hadi. Er meint, dass dieser Frieden nicht mit Drohnen oder Bomben geschaffen werden kann, sondern nur mit einem aufrichtigen, innerafghanischen Dialog und einer diplomatischen Lösung.