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Erdogan hat weiter Carte blanche im Terrorkrieg

Recep Tayyip Erdogan hat die Jagdsaison auf die politische Opposition in der Türkei eröffnet. Ungeachtet zahlreicher internationaler Proteste hat der türkische Präsident gerade die Aufhebung der Immunität von mehr als 130 Abgeordneten des Parlaments in Ankara mit seiner Unterschrift in Kraft gesetzt. Der Coup richtet sich vor allem gegen die Demokratische Partei der Völker (HDP). Die prokurdische linke Oppositionspartei soll mundtot gemacht und politisch enthauptet werden. 56 ihrer 59 Abgeordneten in der Großen Nationalversammlung droht unmittelbar die Festnahme. Allen voran die HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag sollen wegen Terrorunterstützung angeklagt und hinter Gitter gebracht werden.

Möglich gemacht hat die Entmachtung des Parlaments eine große Koalition antikurdischer Nationalisten. Es waren die Abgeordneten der regierenden AKP und der rechten MHP sowie Teile der sozialdemokratischen CHP, die am 20. Mai für eine entsprechende Änderung der Verfassung votiert haben. Bis zur Unterzeichnung durch den Präsidenten wurde die türkische Justiz auf die neue Lage „vorbereitet“. Berichten zufolge soll der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte (HSYK) in der Türkei die Versetzung von 3746 Justizbeamten beschlossen haben. Die Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten sollen offensichtlich sicherstellen, dass es bei möglichen Klagen von HDP-Abgeordneten gegen die Aufhebung ihrer Immunität zu keinen „unerwünschten Ergebnissen“ kommt.

Erdogan unterzieht die laizistische Republik Türkei einem Islamisierungskurs und ist dabei, eine Präsidialdiktatur zu errichten. Er will nicht nur de facto, sondern auch pro forma der starke Mann am Bosporus sein. In demokratischen Wahlen haben Erdogan und seine islamistische AKP in den vergangenen Jahren stets die Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament für eine Verfassungsänderung verfehlt. Indem die „störenden“ Oppositionellen ausgeschaltet werden, soll nun eben so der Staatsumbau gelingen. Es ist ein Staatsstreich auf leisen Sohlen. Im Fall einer Verurteilung verlieren die HDP-Abgeordneten ihre Sitze, die dann auch nicht neu besetzt werden. Et voilà, Erdogan und seine AKP-Regierung haben das notwendige Quorum in der Nationalversammlung.

Der antidemokratische Coup gegen demokratisch gewählte Parlamentarier korrespondiert mit dem brutalen Krieg, den Erdogans Armee seit Monaten im Südosten der Türkei gegen die kurdische Bevölkerung führt. Die Kurden stehen wieder einmal unter Generalverdacht. Weil sie alle als Mitglieder und Sympathisanten der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gelten, werden ganze Städte unter Ausnahmezustand gestellt. Die türkische Armee bombardiert gezielt Wohngebiete. Ganze Straßenzüge und Wohnviertel in den betroffenen Städten gleichen mittlerweile zerstörten Gebieten im benachbarten Syrien. Wer die Kriegsführung des türkischen Präsidenten kritisiert, wird als Terrorsympathisant diffamiert und verfolgt. In dieser Logik gilt auch die gesamte HDP als „verlängerter Arm“ und „parlamentarisches Sprachrohr“ der PKK.

Die Armee soll für ihren „Kampf gegen den Terror“ weitere Befugnisse erhalten, darunter eine faktische Straffreiheit für die Truppe. Einem Gesetzentwurf des türkischen Verteidigungsministeriums zufolge sollen von Soldaten begangene Straftaten, wie die Folter von Gefangenen oder der unbefugte Gebrauch der Waffe, fortan erst auf ausdrückliche Erlaubnis der Regierung durch die zuständige Staatsanwaltschaft geahndet werden können. In den vergangenen Wochen hatte es immer wieder Berichte über mutmaßliche Kriegsverbrechen in den kurdischen Gebieten gegeben. Die Vereinten Nationen untersuchen den Fall von über 100 bei lebendigem Leib verbrannten Kurden in der Stadt Cizre. Berichten von Hilfsorganisationen zufolge gibt es mittlerweile über 500.000 Binnenvertriebene in der Türkei.

Die fortgesetzte Passivität der Bundesregierung ermutigt Erdogan, immer härter gegen die Opposition im eigenen Land vorzugehen. Doch nicht nur das. Der Arm des Despoten reicht mittlerweile bis nach Deutschland, wie gerade die Causa Jan Böhmermann gezeigt hat. Nach einer Ermächtigung durch Bundeskanzlerin Angela Merkel persönlich kann der türkische Staatspräsident den ZDF-Satiriker wegen „Majestätsbeleidigung“ verklagen lassen. Und nachdem der Deutsche Bundestag in der vergangenen Woche mit einer überwältigenden Mehrheit die Vertreibung und Ermordung von 1,5 Millionen Armeniern durch das Osmanische Reich vor 101 Jahren unter Mithilfe von Kaiserdeutschland als Völkermord bezeichnet hatte, finden die Hetztiraden Erdogans kein Ende. Seine Anhänger beleidigen und bedrohen zunächst „türkeistämmige“ Abgeordnete, gemeint sind alle Mitglieder des Bundestages.

Anders als die Bundesregierung hat Bundestagspräsident Norbert Lammert in dankenswerter Klarheit die Ausfälle des türkischen Staatspräsidenten zurückgewiesen. „Dass ein demokratisch gewählter Staatspräsident im 21. Jahrhundert seine Kritik an demokratisch gewählten Abgeordneten mit Zweifeln an deren türkischer Abstammung verbindet, ihr Blut als verdorben bezeichnet, hätte ich nicht für möglich gehalten“, bekundete er bei der Eröffnung der Bundestagssitzung am vergangenen Donnerstag in Berlin unter Applaus der Abgeordneten aller Fraktionen. Die Verdächtigung von Mitgliedern des Bundestags als Sprachrohr von Terroristen weise er in aller Form zurück.
Skandalös ist und bleibt demgegenüber die Zurückhaltung von Bundeskanzlerin Merkel, die anlässlich der Wutausbrüche des türkischen Präsidenten lediglich bekundete: „Die Vorwürfe und Aussagen, die da jetzt gemacht werden, halte ich für nicht nachvollziehbar.“ Einmal mehr wurde offenbar, wie sehr sich die deutsche Regierungschefin durch den Flüchtlingsdeal mit der Türkei erpressbar gemacht hat. Die Abhängigkeit von Ankara reicht so weit, dass sich Merkel nicht einmal mehr unmissverständlich vor attackierte Abgeordnete ihres eigenen Landes stellen kann.

Auf Unterstützung aus Berlin können die in der Türkei verfolgten Parlamentarier mithin nicht hoffen. Das bisher von Merkel an den Tag gelegte Verhalten gegenüber Erdogan ist ein Schlag ins Gesicht aller freiheits- und friedensliebenden Menschen in der Türkei.

Das feige Schweigen der Bundeskanzlerin wird noch übertroffen durch eine Solidaritätsbekundung des früheren NATO-Kommandeurs Philip M. Breedlove. „Wir dürfen nicht vergessen, dass wir mit der Türkei einen Verbündeten haben, der stark unter Druck steht – im Süden durch einen Bürgerkrieg, im Norden durch eine zunehmend feindliches Schwarzes Meer“, erklärte der frühere US-General und Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte in Europa jüngst in einem Vortrag beim Think-Tank „Atlantic Council“. Die Türkei sei, stellte Breedlove die Prioritäten klar, ein „geopolitisch unglaublich wichtiger Verbündeter“. Das müsse immer im Fokus bleiben. Präsident Erdogan kann und wird das als Carte blanche für seinen Krieg gegen die Kurden und die Demokratie verstehen.

Sevim Dagdelen

Sevim DagdelenSevim Dagdelen ist seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages. Die Politikerin ist Sprecherin für Internationale Beziehungen sowie Beauftragte für Migration und Integration der Fraktion DIE LINKE. Die gebürtige Duisburgerin ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und stellvertretendes Mitglied im Innenausschuss des Bundestages. Sevim Dagdelen besucht regelmäßig die Türkei und den Nahen Osten und setzt sich seit Jahren aktiv für die Rechte von Minderheiten und für verfolgte Journalisten, Künstler, Gewerkschafter und Oppositionelle ein. Als Außenexpertin und Türkei-Kennerin ist sie gefragter Gast in TV und Hörfunk.

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