Droht eine neue Ölkrise?
Deutschland ist reich, aber die gängigen Erklärungen sind falsch – in ihrem neuen Buch räumt Ulrike Herrmann mit zahlreichen Wirtschaftsmythen auf. So bestimmen auch nicht die „Ölscheichs“, wie teuer Öl ist – sondern in erster Linie, wie viel Öl die reichen Länder abnehmen. Ein Kommentar von Ulrike Herrmann.
Wird etwa der Ölpreis steigen? Stets ist dies die erste Frage, sobald es im Nahen Osten oder am Persischen Golf zu Konflikten kommt. So war es auch jetzt wieder, nachdem Drohnen die Ölindustrie in Saudi-Arabien angriffen hatten. Sofort wurden kollektive Erinnerungen wach.
Viele Europäer denken dann an das Jahr 1973 zurück, das für immer durch ein markantes Bild geprägt ist: leere Autobahnen. An vier Sonntagen vor Weihnachten galt ein generelles Fahrverbot, um Öl einzusparen. In einer Fernsehansprache hatte Kanzler Brandt die Nation auf diese drastische Maßnahme eingestimmt: „Zum ersten Mal seit dem Ende des Krieges wird sich … unser Land in eine Fußgängerzone verwandeln … Die junge Generation erlebt zum ersten Mal, was ein gewisser Mangel bedeuten kann.“
Nicht nur in Westdeutschland standen die Autos still; auch in Belgien, Dänemark, Italien, den Niederlanden und Norwegen wurden generelle Fahrverbote verhängt. Eine „Ölkrise“ erschütterte die Welt. Wo eben noch Überfluss war, drohte nun Mangel. Die Medien fragten alarmiert: „Gehen in Europa die Lichter aus?“
Der Westen fühlte sich als Geisel der „Ölscheichs“. Die arabischen Herrscher schienen Schuld zu sein, dass das „schwarze Gold“ plötzlich knapp und teuer wurde. Doch so einfach war die Geschichte nicht. Richtig ist: Die Förderländer hatten schon seit Jahren versucht, den Ölpreis nach oben zu treiben, denn das „schwarze Gold“ war damals lächerlich billig. Im Sommer 1973 kostete ein Barrel Öl, also 159 Liter, nur ganze drei Dollar. Aber bisher waren die Förderländer mit ihren Kartellen stets gescheitert, weil es schlicht zu viel Öl auf den Weltmärkten gab.
Erst 1973 zeichnete sich eine Wende ab: Die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage schrumpfte auf nur noch eine Million Barrel pro Tag, weil die Weltwirtschaft und damit auch der Ölverbrauch stürmisch zugelegt hatten. Die arabischen Herrscher verstanden sofort, dass sie die Barrelpreise jetzt nach oben treiben konnten, wenn sie ihr Ölangebot reduzierten.
Ein geeigneter Anlass war bald gefunden: Am 6. Oktober 1973 brach der Jom-Kippur-Krieg aus. Ägypten und Syrien überfielen Israel, wurden aber bald wieder über ihre Grenzen zurückgedrängt. Der Konflikt war eigentlich schon entschieden und steuerte auf einen Waffenstillstand zu, als die arabischen Ölländer am 17. Oktober verkündeten, sie würden ihre Förderung um fünf Prozent drosseln, um die westlichen Länder zu zwingen, ihre „israelfreundliche“ Politik aufzugeben. Prompt schossen die Ölpreise nach oben und vervierfachten sich in den nächsten Monaten.
Doch wie sich bald herausstellen sollte, hatte diese Preisexplosion nichts mit dem angeblichen Ölembargo zu tun. In Wahrheit hatten die arabischen Länder ihr Angebot nämlich gar nicht reduziert, sondern erhöhten es sogar noch. Während in Westeuropa die Autos sonntags in den Garagen bleiben mussten, wurde in den arabischen Häfen bis zu 44 Prozent mehr Rohöl verschifft als noch im Vorjahr.
Das Embargo war nur Propaganda, wirkte aber glaubhaft, weil der westliche Ölbedarf so rasch gestiegen war, dass er kaum noch gedeckt werden konnte. Nicht die Araber hatten das Öl verknappt – sondern die Industrieländer hatten den Engpass selbst verursacht.
Bis zur Ölkrise war Öl bedenkenlos verschwendet worden. Diese Wegwerfmentalität zeigte sich etwa beim VW-Käfer, der aerodynamisch so ungünstig gestaltet war, dass er 15 Liter Benzin pro hundert Kilometer verbrauchte, wenn er seine Höchstgeschwindigkeit von 140 Stundenkilometern voll ausreizte. Der Ölpreisschock war also heilsam, denn erstmals wurde Energie sparsamer eingesetzt: Die Bundesrepublik führte 1974 sechs Prozent weniger Öl als im Vorjahr ein. Trotzdem mussten die Westdeutschen nun 17 Milliarden D-Mark mehr für den Rohstoff bezahlen, weil der Preis so stark gestiegen war.
Viele Bundesbürger blieben dennoch gelassen: Wie Allensbach Ende 1973 ermittelte, hatten 57 Prozent der Befragten keinerlei Maßnahmen ergriffen, um Energie einzusparen. Vor allem das eigene Auto blieb heilig. In keinem einzigen Bundesland konnte festgestellt werden, dass das Verkehrsaufkommen gesunken wäre, und auch der Umsatz an den Tankstellen nahm nicht ab. Umgekehrt konnten Busse und Bahnen kaum zusätzliche Fahrgäste verbuchen.
Auch die Fahrverbote am Sonntag erwiesen sich als nicht besonders effektiv, um Energie zu sparen. Zwar wurde weniger Benzin benötigt, dafür stieg der Stromverbrauch: Viele Familien nutzten die autofreie Zeit, um sich ausgiebig dem Fernsehen zu widmen, obwohl das Programm „von gepflegter Langeweile“ war, wie die Frankfurter Rundschau hinterher kritisierte. Die Bundesregierung hatte auch nie ernsthaft erwartet, dass die Fahrverbote den Energieverbrauch senken würden. Es ging um den psychologischen Effekt, wie Helmut Schmidt später erklärte: „Wir mussten den Menschen bewusst machen, dass die Kacke am Dampfen war.“
Dieser Bewusstseinswandel stellte sich tatsächlich ein: „Grenzen des Wachstums“ wurde zu einem geflügelten Wort, und der gleichnamige Bestseller verkaufte sich millionenfach. Erstmals nahmen viele Menschen wahr, dass Rohstoffe und Umwelt knapp sind.
Trotzdem erwies es sich als ein Trugschluss, dass höhere Ölpreise automatisch dazu führen würden, dass weniger Öl verbraucht würde. Stattdessen taten sich neue Geschäftsmöglichkeiten auf. Die Petrodollars wurden vor allem für die Bundesrepublik zu einem glänzenden Geschäft, weil die Ölländer ihre Zusatzeinnahmen nutzten, um im großen Stil westdeutsche Autos und Maschinen zu erwerben. Auch ansonsten brummte der Außenhandel: Der westdeutsche Exportüberschuss betrug 1974 satte 25,9 Milliarden D-Mark – und hatte damit einen neuen Rekord erreicht. Trotz „Ölkrise“.
Bereits 1973 zeigte sich, was bis heute gilt: Nicht die „Ölscheichs“ bestimmen, wie teuer das Öl ist. Für den Preis entscheidend ist, wie viel Öl die reichen Ländern abnehmen. Daran ändert auch ein Drohnenkrieg in Saudi-Arabien nichts.