Die verlorenen Menschenrechte am Bosporus
Sevim Dagdelen prangert in Ihrem Buch „Der Fall Erdogan. Wie uns Merkel an einen Autokraten verkauft“ die verheerende Politik der Kanzlerin gegenüber der Türkei, respektive gegenüber dem Erdogan-Regime, an. Das nicht erst nach dem sogenannten Putsch durch und durch antidemokratische und drakonische Vorgehen Erdogans gegenüber Andersdenkenden und Oppositionellen wurde und wird seitens der Bundesregierung schlicht in Kauf genommen – Hauptsache, der in jeglicher Hinsicht unappetitliche und unwürdige Flüchtlingsdeal mit der Türkei hält. Can Dündar, türkischer Investigativjournalist, der inzwischen auch einer breiten Öffentlichkeit in Deutschland bekannt ist, steuerte ein Vorwort bei, das Sie hier nachfolgend finden.
In den türkischen Schulbüchern heißt es über das Ende des Ersten Weltkrieges: »Die osmanischen Soldaten kämpften heldenhaft an allen Fronten, doch als die Deutschen besiegt waren, galten auch wir als besiegt.«
Wenn ich mir die Zeitläufte heute, ein Jahrhundert später, anschaue, scheint mir eine Revanche für 1918 im Gange zu sein. Im Krieg um Demokratie und Menschenrechte wird, da die Türkei besiegt ist, schließlich auch Deutschland, das von Anfang an vor jeder ihrer Unrechtshandlungen die Augen verschloss, als besiegt gelten.
Diesen Verlauf scheint Kanzlerin Merkel gespürt zu haben, als sie bei ihrem wer weiß wievielten Besuch in Istanbul zum Treffen mit Erdogan auf dem vergoldeten Thron saß. Nervosität und Anspannung standen ihr ins Gesicht geschrieben. Doch was man ihrer Miene ablesen konnte, hörte man von ihren Lippen nicht.
Als die Türkei zum weltweit größten Gefängnis für Journalisten gemacht und die Pressefreiheit mit Füßen getreten wurde,als Akademikerinnen und Akademiker, Schriftsteller und Künstler verhaftet wurden, weil sie Unterschriften für den Frieden gesammelt hatten, als Städte im Südosten durch Panzerbeschuss zerstört wurden, als die Immunität von Abgeordneten aufgehoben wurde, als eine Hexenjagd auf Oppositionelle eingeleitet wurde…da war Merkel stets darauf bedacht, kein einziges Wort zu sagen, das Ankara betrüben könnte, und sich kein einziges Mal mit der Opposition zu treffen.
Sie schwieg auch, als der türkische Staatspräsident, ermutigt durch ihre Unterstützung, »Bluttests« von Abgeordneten im Deutschen Bundestag forderte;
als ihren eigenen Staatssekretären und Abgeordneten die Erlaubnis zum Besuch der auf dem Luftwaffenstützpunkt Incirlik stationierten deutschen Soldaten verweigert wurde;
als der deutsche Botschafter in Ankara nachgerade zur Persona non grata erklärt wurde, weil er Unrechtmäßigkeiten bei Gerichten beobachtet hatte.
Zu alldem schwieg Merkel und erlaubte obendrein, dass von diesen zigtausend Beleidigungsprozessen, die Erdogan anstrengte, einer auch in ihrem eigenen Land eröffnet wurde, um Ankara glücklich zu machen.
Während wir uns vom Westen Unterstützung im Kampf für die Demokratie erhofften, tat der Westen das Gegenteil und importierte seinerseits die Autokratie aus der Türkei. Weswegen? Um eines schmutzigen Abkommens wegen, das Flüchtlinge vom europäischen Kontinent fernhalten soll. Womöglich hat dieses Abkommen tatsächlich Millionen von Flüchtlingen daran gehindert, nach Europa zu gelangen, doch weder brachte es den Türken Visafreiheit, noch taugte es zum Schutz Europas vor der aufbrandenden Nationalismuswelle.
Die in Ankara tolerierte autokratische Regierungsform bereitet sich auch zur Machtübernahme in europäischen Hauptstädten vor. Die EU-Skepsis im Osten und die Islamophobie im Westen schaukeln sich – zwei Messern gleich, scharf geschliffen, indem man sie aneinander wetzt – gegenseitig hoch und versperren der Welt den Weg in die Zukunft. Europa, ein Synonym für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat, entfremdet sich den eigenen Werten, je mehr es sich angesichts terroristischer Bedrohung an eine Sicherheitspolitik klammert.
Doch so wenig die Türkei allein aus Erdogan besteht, so ist Deutschland nicht allein Merkel. Wie es in der Türkei Menschen gibt, die sich ungeachtet aller Bedrohungen für Demokratie einsetzen, gibt es auch in Deutschland Menschen, die beharrlich für Frieden, Demokratie und Freiheit einstehen und nicht bereit sind, um kurzfristiger Interessen willen die universellen Werte der Menschlichkeit aufzugeben.
Eine von ihnen ist Sevim Dagdelen.
Eine Politikerin, die unseren Kampf unterstützt, die zu unseren Verhandlungen anreiste, die weiß, dass die Lösung nicht in einer Interessengemeinschaft mit den Regierungen liegt, sondern in der internationalen Solidarität der Völker. Sie ist eine von denen, die herausragende Beiträge dazu leisten können, dass die erhoffte Brücke zwischen Deutschland und der Türkei aus demokratischen, friedlichen und freiheitlichen Steinen erbaut werden kann.
Was sie in diesem Buch schreibt, ist wegweisend für beide Länder.
Folgendes dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren: Wir sind nicht in Deutsche und Türken getrennt. Wir sind gespalten in Türken und Deutsche, die an Demokratie, Freiheit, Frieden, Recht und Gerechtigkeit, Arbeit und Engagement, Menschenrechte und Gleichberechtigung von Mann und Frau glauben, auf der einen Seite – und Türken und Deutsche, die nicht daran glauben, auf der anderen.
Wenn dieses Mal Letztere besiegt werden, gelten Erstere als Sieger.
(aus dem Türkischen von Sabine Adatepe)