Die Rückkehr eines Verdrängten
Am 5. Mai wäre Karl Marx 200 Jahre alt geworden – dass sein Denken auch heute noch aktuell ist, beweist Diego Fusaro, Shootingstar der politischen Philosophie, und liefert mit seinem Buch „Schon wieder Marx“ einen ganz direkten Zugang zu seinem Schlüsselwerk „Das Kapital“. Fusaro veranschaulicht, wie sehr die gängige Ideologie heute darum bemüht ist, Marx in „entkoffeinierter“ Form – also ohne sein antikapitalistisches Pathos und ohne seine revolutionäre Natur – vorzeigbar zu machen. Marx‘ politische Ausdruckskraft bleibt aber im Kern stets oppositionell und umstürzlerisch. Ein Auszug, der zeigt, dass sich mit der marx‘schen Brille noch immer Antworten und Lösungswege für aktuelle Probleme finden lassen.
Schon wieder Marx. Noch immer geht sein Gespenst um in Europa und in der Welt, die sich mit Nachdruck es auszutreiben bemüht. Das ist Marx’ Schicksal und letztlich das Schicksal unserer Beziehung zu ihm. Je mehr er für tot, überholt, nutzlos, veraltet erklärt wird, desto zwingender und unausweichlicher wird seine Anwesenheit und desto notwendiger erscheinen uns seine Analysen.
Diese gewohnte Beziehung zu Marx nimmt unweigerlich die Form des Exorzismus an: In der ubiquitären Ankündigung seines Todes ist zwischen den Zeilen immer die Hoffnung versteckt, dieser Übergang möge tatsächlich erfolgen, denn – warum soll man es leugnen? – besagter »Toter« ist immer noch quicklebendig und verbreitet weiter Panik unter den Lebenden, indem er die Widersprüche einer Welt anprangert, in der das Reale weit entfernt davon ist, rational zu sein. Sind nicht alle, die weiterhin im Namen Gottes oder des Marktes krampfhaft wiederholen, dass »Marx tot sei«, von dessen Gespenst und von der strengen Leidenschaft einer Analyse geplagt, die weiterhin unerbittlich und unnachgiebig die Widersprüche einer auf den Kopf gestellten Welt brandmarkt?
Eine gespenstische Präsenz also, an die uns vor ein paar Jahren Derrida in seiner Auseinandersetzung Marx’ Gespenster erinnert hat, eines der besten in jüngerer Zeit erschienenen Bücher über den aus Trier stammenden Gelehrten: gespenstisch, weil sie unsichtbar ist, immateriell, kontinuierlich verdrängt und verbannt und doch unausrottbar.
Die Welt in ihrer kapitalistischen Erscheinungsform bleibt durchdrungen – sogar in paroxysmaler Weise – von den Widersprüchen, die Marx freigelegt hatte und die die herrschende Ideologie, heute wie damals, natürlich zu kaschieren versucht, selbst dadurch, dass sie sie zu unveränderlichen Mängeln einer Welt erklärt, die letztendlich die bestmögliche sei, zumindest die einzig mögliche. Heute, mehr noch als zu Marx’ Zeit, scheint alles den eigenen Widerspruch in sich zu tragen: Die Maschinen, die den Nutzwert der menschlichen Arbeit erhöhen könnten, lassen ihn bis zur Erschöpfung schuften; die Produktion, die die Bedürfnisse aller stillen könnte, beruht auf der perversen Dynamik der Beibehaltung eines ständigen Zustandes von Armut für einen Teil der Menschheit.
Der beständige Widerspruch des Kapitals ist das Kapital selbst. Trotz der Schwemme und des Siegeszuges alter wie neuer Ideologien ist es kaum zu leugnen, dass Marx’ Aktualität sich mit dem Kapitalismus deckt, dessen »schlechtes Gewissen« der Trierer Philosoph niemals aufhörte zu sein und so sein radikalster Kritiker und dissonantester Geist bleibt. Es ist wohl wahr, dass Marx – wenn er nicht für tot erklärt wird, um ihn zu töten – heute immer häufiger von den Apparaten der ideologischen Manipulation des Kapitals vereinnahmt und für die neue Ordnung der globalen Entfremdung »vorzeigbar« gemacht wird. Allerdings – woran uns Žižek erinnert – in »entkoffeinierter« Form, ohne sein antikapitalistisches Pathos und ohne seine revolutionäre Ausdruckskraft, stattdessen präsentiert als harmloser Theoretiker der Globalisierung und heimlicher Beförderer des ewigen Traums der Liberalen, nämlich der Auslöschung des Staates (so zum Beispiel in Jacques Attalis erfolgreichem Buch Karl Marx ou l’esprit du monde, (dt. Karl Marx oder der Geist der Welt; 2005).
Marx seiner natürlichen politischen Ausdruckskraft zu berauben, sprich seines antikapitalistischen Gehaltes, das sich in menschlichem Handeln ausdrückt, um das »Einfache, das schwer zu machen ist« (Bertolt Brecht) zu etablieren, bedeutet noch einmal, Marx auszutreiben, ihn zu verharmlosen, ihn erneut zum Tode zu verurteilen.
Wie ich in meinem Buch Bentornato Marx! (Willkommen zurück, Marx!; 2009) gezeigt habe, bin ich persönlich davon überzeugt, dass der Grund dafür, dass Marx mehr als jeder andere Autor des »westlichen Kanons« eine Ausnahmeerscheinung darstellt, mit einer sperrigen und auf ihre Weise gespenstischen Präsenz, in der unauflöslichen Verbindung zweier Aspekte liegt, die nur abstrakt voneinander getrennt werden können. Erstens, Marx’ Denken markiert mehr als jedes andere den Auszug des philosophischen Wissens aus dem Elfenbeinturm und den Universitäten hinaus in die Welt, in dem Versuch, in ihr und an ihr zu arbeiten, um sie konkret zu verbessern. Zweitens übt es auf jede Perspektive, jeden Standpunkt, der sich darum bemüht, eine Position einzunehmen in Bezug auf den Verlauf der Ereignisse und die Bedeutung der Dinge, zwangsläufig eine Anziehungskraft aus. So groß ist diese Anziehungskraft, dass – worauf schon Georg Lukács, lange bevor Marx zum »toten Hund« wurde, der er heute vorgeblich ist, hingewiesen hat – das Marx’sche Denken zum eigentlichen Prüfstein für jeden geworden ist, dem es ernst damit ist, sich über sein eigenes Weltbild im Klaren zu sein und vor allem über die Bedeutung der eigenen Position in den Kämpfen, die nicht aufgehört haben, die Welt zu erschüttern. Wer darauf bestehen würde, die heutigen Umwälzungen des Kapitals (Finanzkrisen, Auseinanderklaffen der ökonomischen Schere, et cetera) einzig durch die Marx’sche Brille betrachten und interpretieren zu wollen, würde sicher wenig verstehen, da es einfach unmöglich ist, sich ein Bild von Ereignissen zu machen, die Marx gezwungenermaßen nicht vorhersehen konnte. Ebenso wahr ist allerdings, dass jeder, der sich weigert, auch diese Brille aufzusetzen, nichts vom Heute und seinen Veränderungen verstehen wird.
In diesem Sinne bleibt Marx, trotz des Verschwindens des Marxismus und des Kommunismus – begraben unter den Trümmern der Berliner Mauer –, paradoxerweise weiterhin unser Zeitgenosse. Auch wenn es keinen Sinn hat, nostalgisch zu Marx zurückzuwollen, kann es deshalb durchaus sinnvoll sein, von Marx ausgehend neu zu beginnen – neu zu beginnen bei der Arbeit, die er an zwei Fronten unternahm: der entmystifizierenden Kritik der kapitalistischen Welt und einer Praxis, die eine nobilitierende und endlich menschenwürdige Zukünftigkeit verfolgt.
Die schärfste Kritik am Kapital und das verführerischste Glücksversprechen, zu der die Moderne fähig sein konnte, bilden eine Einheit im Marx’schen Projekt: Sie sind das Herz, das in der Mitte von Das Kapital schlägt, des Werkes, an dem – woran uns Althusser erinnert – Marx bewertet werden muss. Es ist ein komplexes Werk, das in vielerlei Hinsicht selbst gespenstisch ist: Hat jemand die drei dicken Wälzer, die Das Kapital umfasst, tatsächlich gelesen? In aller Aufrichtigkeit hat sogar Fidel Castro zugegeben, die Lektüre zwischen Seite 20 und 30 des ersten Bandes eingestellt zu haben. Wir sollten auch nicht vergessen, dass von den drei Bänden nur der erste, der im Jahre 1867 erschien, von Marx selbst verfasst wurde; die beiden anderen sind erst posthum erschienen und wurden von Engels, der »zweiten Geige«, auf der Grundlage von Marx’ Aufzeichnungen komponiert. Die Spektralität von Das Kapital, wie auch die vieler anderer Werke von Marx, offenbart und verdichtet sich auch in seiner Unvollkommenheit: Der dritte Band endet mit dem Kapitel »Die Klassen«: zwanzig Zeilen und dann Stille, als ob Marx selbst uns mit der Vollendung seiner Arbeit beauftragt hätte, der Sisyphusarbeit, die Analyse einer sich ständig verändernden Wirklichkeit neu zu schreiben, die, eben weil wir sie immer wieder neu schaffen, einen endlosen kritischen Vergleich erfordert.