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Die Revolution ist fällig

Vor 40 Jahren begann eine schleichende Veränderung unserer Wirtschaft, unserer Politik, unseres Lebens. Die neoliberale Ideologie hat in dieser Zeit bleibende Schäden angerichtet, Strukturen verändert, Bewährtes zerstört. Wir leben heute in einer anderen Welt. Einer schlechteren! Was es braucht, sind radikale Veränderungen, nichts weniger als eine Revolution. Sie wird nicht kommen, aber vielleicht die Bereitschaft für eine große positive Reform. Albrecht Müller liefert wichtige Denkanstöße für eine gerechtere und effiziente Gesellschaft – ein Auszug aus seinem neuen Buch.

Von außen betrachtet haben wir eine schöne Demokratie. Formal gesehen gibt es die Chance zum politischen Wechsel. Es finden Wahlen statt. Von außen betrachtet werden wir gut regiert und es geht uns gut. Tatsächlich stimmt der schöne Satz unseres Grundgesetzes, alle Gewalt gehe vom Volk aus, seit Langem nicht mehr. Tatsächlich gibt es hierzulande statt Fortschritt Rückschritt. Restauration!

Die immer ungerechter werdende Verteilung der Einkommen und Vermögen hat dazu geführt, dass einige das Sagen haben. Die Reichen und die Starken setzen sich durch, bestimmen Wirtschaft und Gesellschaft. Weltweit, in den USA sowieso, bei uns, in Frankreich, in Großbritannien, in Brasilien, in Indien, in Chile, in Saudi-Arabien. Überall.

Die großen Finanzgruppen beherrschen das Wirtschaftsgeschehen und bestimmen die Regeln unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Weltweit.

Obwohl immer wieder behauptet wird, wir hätten eine Marktwirtschaft und der Wettbewerb müsse geschützt werden, haben wir es inzwischen in zentralen Bereichen mit Monopolen zu tun: mit Microsoft, mit Amazon, mit Facebook, mit marktbeherrschenden Wohnungsgesellschaften.

Unsere Parteien sind demokratische Institutionen? Sie sind dank Grundgesetz beauftragt, an der Willensbildung mitzuwirken. Doch wir müssen feststellen, dass heute kaum noch Menschen in die Parteien gehen, um dort etwas zu gestalten, um die Welt zu verbessern. Karrieristen bestimmen das Geschehen. Unsere Parteien sind durchsetzt von Lobbyisten. Unsere Parteien sind durchsetzt von Einflussagenten.

Und unsere Medien? Hochkonzentriert. Regionale Monopole und Oligopole. Kaputter umgedrehter öffentlich-rechtlicher Rundfunk – mit Ausnahmen. Miserabler kommerzieller Rundfunk. Auf Anpassung ans konservative Milieu getrimmte Redaktionen.

Das hat Folgen für die Programmatik, die in unserer Demokratie noch eine Chance hat: Krieg mehr als Frieden. Verneigung vor den Interessen der USA, Vasall statt Unabhängigkeit. Die Wahrnehmung großer Interessen mehr als soziale Gerechtigkeit und Sozialstaatlichkeit. Privatisierung mehr als Gemeineigentum. Deregulierung mehr als gute Regeln, Laufenlassen mehr als vernünftige Social-Technique. Die neoliberale Ideologie und Praxis beherrschen auch unser Land. Mit gelegentlichen kleinen Variationen.

Das war in der Bundesrepublik Deutschland einmal anders. Ganz am Anfang, kurz nach 1945, und nach einer restaurativen Phase im Kalten Krieg der 1950er Jahre gab es in den 60ern und 70ern einen wirklichen Schwung aufwärts. Dann folgte der Siegeszug der neoliberalen Bewegung. Und abwärts ging’s rund um das Jahr 1980. Diesen Niedergang, diesen Bruch, hat der französische Ökonom Thomas Piketty am Beispiel der Vermögens- und Einkommensverteilung beschrieben. Ich habe diesen Umschwung als Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt zwischen 1973 und 1982 praktisch miterlebt. Die Beobachtungen und Analysen anderer wie auch meine eigenen Erfahrungen werden in den folgenden Text eingehen. Ich blicke inzwischen auf 70 Jahre politischen Engagements und auf lange Jahre praktischer politischer Arbeit zurück. Mein politisches Engagement begann 1950 mit dem Widerstand gegen die Wiederbewaffnung und 1952 in der Auseinandersetzung mit meinem damaligen Mathematiklehrer, der von Nazi-Deutschland und von Panzerschlachten schwärmte. Später folgte die praktische Erfahrung als Redenschreiber des Bundeswirtschaftsministers Professor Dr. Karl Schiller, als Wahlkampfmanager Willy Brandts, als Planungschef im Bundeskanzleramt bei Brandt und Helmut Schmidt, als Bundestagsabgeordneter und Herausgeber der NachDenkSeiten.

In vielen Feldern der Politik und des Zusammenlebens konnten wir ein Auf und später leider auch ein Ab beobachten. Die Abwärtsbewegung kann man ziemlich genau bestimmen: Im Umfeld des Jahres 1980 wurden progressive Ansätze, humane, soziale Ansätze des menschlichen Zusammenlebens gestoppt. Das geschah nahezu überall. Zeitversetzter Rückschritt, Restauration. In der Außen- und Sicherheitspolitik gab’s damals noch Fortschritte. Das kippte kurz nach dem Höhepunkt im Jahr 1990. Mit diesem neuen Buch komme ich auf den früher formulierten Gedanken zurück: Wir waren schon einmal weiter.

Jetzt ist in allen Feldern Restauration angesagt. Was das heißt, werde ich an einigen Beispielen beschreiben. Und weil ich persönlich als Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt die Zäsur erlebte, ohne sie damals zwischen 1973 und 1982 gleich richtig einordnen zu können, kann ich die Beobachtung der grundlegenden Veränderungen auch mit persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen bereichern.

Restauration ist angesagt, Rückschritte gibt es zuhauf. Wie auf demokratische Weise dieser Trend gestoppt und umgekehrt werden soll, erschließt sich nicht einfach so. Die Revolution ist überfällig. Aber wie soll das gehen? Sie ist verboten. Das Grundgesetz sieht so etwas nicht vor. In der Praxis werden gegebenenfalls eher die Köpfe der Revolutionäre als die der Reaktionäre rollen. Das deutet sich in der Härte der Auseinandersetzung der etablierten Politik und Medien mit den kritischen Medien im Internet an. Wer den Kopf hebt, wird niedergemacht, diffamiert und schnell als Verschwörungs­theoretiker oder Antisemit stigmatisiert. Die Konterrevolution hat Fantasie.

Gibt es einen Ausweg? Ja, die Vermögen neu verteilen. Aber genau dies wird mit gewalttätigem Widerstand beantwortet werden. Was bleibt dann noch? Die notwendigen großen Veränderungen vorbereiten. Durchdenken. Durchkneten. Formulieren. Vorarbeiten für eine Neue Gesellschaft. Ansonsten: Überleben. Unter Freundinnen und Freunden. Sich mehr als bisher zusammentun. Das ist keine großartige Perspektive. Dennoch besser als nichts.

Albrecht Müller

Albrecht MüllerAlbrecht Müller, 1938 in Heidelberg geboren, ist Diplom-Volkswirt, Bestsellerautor und Publizist. Er ist Herausgeber der NachDenkSeiten. Müller leitete Willy Brandts Wahlkampf 1972 und die Planungsabteilung unter Brandt und Schmidt. Von 1987 bis 1994 war er für die SPD Mitglied des Deutschen Bundestages. Zu seinen veröffentlichten Büchern zählen "Mut zur Wende!", "Die Reformlüge" sowie "Machtwahn". Im Westend Verlag erschienen zuletzt die "Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst" (2019) und "Die Revolution ist fällig" (2020).

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