Die Macht der Eliten
Charles Wright Mills war einer der schillerndsten amerikanischen Intellektuellen und zählt zusammen mit Herbert Marcuse und Frantz Fanon zu den wichtigsten Wegbereitern der Neuen Linken. Generationen von Leserinnen und Lesern wurden durch Die Machtelite zu kritischem Denken animiert. In seinem bahnbrechenden Buch beschreibt Mills einen Komplex von drei fest miteinander verbundenen Machtzentren: die militärische, wirtschaftliche und politische Elite – und kritisiert dabei bereits jene Entwicklungen, die heute als „Postdemokratie“ zusammengefasst werden. Über 60 Jahre nach Erscheinen ist sein Werk aktuell wie nie – wer sich für Elitenforschung interessiert, kommt an Mills nicht vorbei. Lesen Sie zum Erscheinen der Neuausgabe des Buches einen Auszug aus der Einführung der Herausgeber Björn Wendt, Michael Walter und von Marcus B. Klöckner.
»Radikaler Nomade«, »postmoderner Cowboy«, »amerikanischer Utopist«, »breitschultriger motorradfahrender Anarchist aus Texas« – viele Schlagworte, mit denen C. Wright Mills charakterisiert wird, deuten auf das außergewöhnliche Leben dieses amerikanischen Professors für Soziologie hin. Mills baute und renovierte als talentierter Handwerker und Mechaniker seine eigenen Häuser, fuhr mit seinem geliebten BMW-Motorrad zu Vorlesungen, hatte eine Passion für »exzessives Rauchen und Trinken«, für moderne Technik und die Fotografie sowie für ausgedehnte Reisen im VW-Bus. Er experimentierte mit ökologischer Landwirtschaft und war unter anderem dafür bekannt, gerne zwei Hauptmahlzeiten hintereinander zu verspeisen. Vor allem arbeitete er aber wie ein Besessener – oft 15 Stunden am Tag – an seinen wissenschaftlichen und sozialkritischen Schriften, die ihn zu einem der bekanntesten öffentlichen Intellektuellen seiner Zeit machten.
Viele seiner Zeitgenossen nahmen Mills zweifellos weniger als Wissenschaftler, sondern vielmehr als radikalen politischen Aktivisten wahr, der lautstark gegen strukturelle politische und soziale Missstände aufbegehrte. In seinen letzten Lebensjahren, seinen »globalen Wanderjahren« (1956–1962), reiste er nicht nur quer durch Europa, sondern zum Verdruss seiner Landsleute auch in die Sowjetunion und ins revolutionäre Kuba. Sein politisches Pamphlet über die kubanische Revolution – Listen, Yankee – wurde ein Bestseller, der sich fast eine halbe Millionen Mal verkaufte. Seine Abrechnungen mit der amerikanischen Kubapolitik, seine Demaskierungen des öffentlichen Selbstbilds vieler Amerikaner, seine Treffen mit Fidel Castro und Che Guevara – all dies diskreditierte ihn in den Augen weiter Teile der US-Gesellschaft. Und dies blieb nicht ohne Folgen. Das FBI überwachte ihn, er erhielt eine Morddrohung und er wurde zusammen mit seinem Verlag wegen seines Buches auf 25 Millionen Dollar Schadensersatz verklagt, was ihn finanziell zu ruinieren drohte. Noch sechs Jahre nach seinem frühen Tod infolge eines Herzinfarkts im Alter von 45 Jahren betrachtete die CIA Mills in Bezug auf die weltweiten Proteste von 1968, neben Herbert Marcuse und Frantz Fanon, als einen der drei »weltweit einflussreichsten Intellektuellen der Neuen Linken«. C. Wright Mills – ein amerikanischer Kommunist, Sozialist, Anarchist, Marxist?
Mills’ politische Biografie als radikaler Außenseiter und Sozialkritiker spiegelt jedoch nur eine Seite seines Lebens wider. Er war zugleich ein im Handwerk seiner Disziplin geschulter und anerkannter Wissenschaftler) – der heutzutage als ein soziologischer Klassiker betrachtet werden kann, dessen Wissenschaftsverständnis von »geradezu zeitloser Gültigkeit« ist. Als gleichermaßen intellektueller politischer Aktivist und »klassischer« Soziologe verfolgte Mills ein dezidiert aufklärerisches Anliegen. Im Zentrum seines Werkes stand die Frage, wie die privaten Schwierigkeiten der Menschen in den Milieus ihrer alltäglichen Lebenswelten mit den großen Prozessen des gesellschaftlichen Strukturwandels und den mit ihnen verbundenen öffentlichen Problemen in Verbindung stehen. Er wollte den Menschen durch seine Analysen einerseits zeigen, was nicht ist – ihre geläufigen Vorstellungen von der Welt und ihrer Rollen in ihr als Irrtümer und Mythen entlarven. Er wollte ihnen andererseits zeigen, was ist und möglich wäre, welche Rollen sie also soziologisch und politisch spielen und spielen könnten. Durch das Sichtbarmachen der gesellschaftlichen Kräfte, die ihr Handeln und Denken bestimmen, durch die Übersetzung ihrer individuellen Schwierigkeiten in sozial verursachte Probleme sollten sie in die Lage versetzt werden, ihren Lebensalltag, ja die »Geschichte« in ihrem Sinne durch eine öffentliche und verantwortliche Politik zu gestalten.
Diese aufklärerische Aufgabe war für ihn angesichts der von ihm wahrgenommenen destruktiven Entwicklung der »überentwickelten Gesellschaft« so dringlich wie nie zuvor. Er diagnostizierte einen Niedergang der Werte der modernen Gesellschaft und sah eine neue Zeit herannahen, die er die »postmoderne Epoche« nannte. Zu einer Zeit, in der die Mittel für die Realisierung vernünftiger und demokratischer Verhältnisse potenziell vorhanden wären, sah er den Glauben an die Gestaltbarkeit der Welt, die Idee, dass der Mensch sein eigenes Schicksal gestalten kann und daher für sein Handeln verantwortlich ist, immer mehr schwinden. Diese Diagnose legte das Fundament für Mills’ ambitionierte Mission: Er wollte das historische Erbe der klassischen Soziologie, den Wertekanon des Sozialismus und Liberalismus, der Aufklärung und des Humanismus im postmodernen Zeitalter wiederbeleben. Weniger durfte es bei ihm nicht sein, wie Mills zu sagen pflegte: »Taking it big«.
Die Intensität mit der Mills diese Mission verfolgte, zeigt sich an seinem beeindruckenden Werk, das er hinterlassen hat. In nicht einmal 25 Jahren seiner publizistischen Tätigkeit veröffentliche er über 200 Aufsätze und 11 Bücher; mit seinen unveröffentlichten Schriften summiert sich sein Nachlass auf über 350 Beiträge. Sein Werk stieß bereits zu seinen Lebzeiten in der (wissenschaftlichen) Öffentlichkeit auf große positive wie negative Resonanz. Dies gilt auch für Deutschland, wo sich unter anderem Jürgen Habermas, Hannah Arendt, Ralf Dahrendorf und Herbert Marcuse mit Mills auseinandersetzten. Viele seiner Monografien wurden seit den 1950er Jahren ins Deutsche übersetzt.
Nach Mills’ frühem Tod verblasste diese Aufmerksamkeit jedoch rasch: sein Name wurde »in Deutschland völlig verdrängt« – und auch gegenwärtig gehört er in der deutschsprachigen Soziologie keineswegs zum typischen Lehrkanon. Das internationale »Mills-Revival«, das sich seit der Jahrtausendwende beobachten lässt, ist gleichwohl auch am deutschsprachigen Raum nicht vollständig vorbeigezogen. Eines seiner Hauptwerke, die Sociological Imagination, die unter anderem als eine Pionierstudie der Öffentlichen Soziologie gilt, wurde in einer deutschen Neuübersetzung kürzlich gar neu aufgelegt).
Ein anderer Zweig seiner Forschung, die im Zentrum seines Werkes stehende Trilogie über die Machtstrukturen der US-Gesellschaft, ist von diesem Revival in Deutschland noch nicht wirklich erfasst worden. Nachdem Mills in seinen Studien The New Men of Power (1948) und White Collar (1951) zunächst untersuchte, wie die organisierte Arbeiterschaft und die Mittelschicht der Angestellten sich in den von ihm beschriebenen strukturellen Wandlungsprozess der modernen Gesellschaft einfügen und inwiefern sie dabei als geschichtswirksame Kräfte betrachtet werden können, wendete er sich in The Power Elite (1956) der amerikanischen Oberschicht zu. Im Zentrum der freiheitlich-demokratischen Welt, den USA, so die Kernthese der Studie, konzentriere sich die Macht in einem historischen neuartigen Netzwerk aus wirtschaftlichen, militärischen und politischen Bürokratien. In ihm habe sich eine Machtelite formiert, die sich aufgrund ihrer Stellung über alle anderen sozialen Gruppen erhebt, über historisch beispiellose Machtmittel verfügt und den formal demokratischen Prozess in der Praxis auf vielfältige Weise untergräbt.
Die Machtelite gilt vielen Mills-Kennern als sein »einflussreichstes Buch« und nimmt innerhalb seiner Gesellschaftstrilogie eine Sonderstellung ein. Seine Studie löste eine – bis heute anhaltende – kontroverse Debatte über die Machtverteilung und die Bedeutung der Eliten in modernen demokratischen Gesellschaften aus und wurde zum Ausgangspunkt der kritischen Schule der Elitensoziologie und der Machtstrukturforschung (engl. Power Structure Research). Mills’ Beobachtungen – eine enge Liaison zwischen ökonomischen, politischen und militärischen Großorganisationen, das Streben der Funktionseliten der mittleren Machtsphären in die Welt des großen Geldes und die Existenz von zahlreichen exklusiven Elite-Netzwerken, über welche die Medien nur selten in ihrer Berichterstattung informieren – haben nichts an ihrer Aktualität eingebüßt.
Er hat seiner Nachwelt nicht nur eine beißende Sozialkritik und ein theoretisches Modell hinterlassen, das sich auf die Gegenwartsgesellschaft anlegen und weiterentwickeln lässt, um eine kritische Form der Eliten- und Machtforschung zu betreiben, die heute noch genau so viel Relevanz hat, wie zu seiner Zeit. Sowohl Die Machtelite, als auch sein Gesamtwerk weisen deutlich darüber hinaus. Seine Methode, seine Grundhaltung, sein Wissenschaftsverständnis, seine Aufsätze und Bücher als Ganzes, zeugen auf vielfältige Weise von der Aktualität seiner Forschung. Für die öffentliche und kritische Soziologie, für die Soziologie der Soziologie und Wissenssoziologie, für die Weber- und Marx-Diskussion, für die Soziologie der Intellektuellen, die soziologische Zeitdiagnose und vor allem für die Politische Soziologie und Sozialkritik ist dies offensichtlich. Dass Mills uns aber nach über 60 Jahren nicht nur etwas zur Wissenschaftsgeschichte seines Fachs, sondern auch über die politischen Debatten und gesellschaftlichen Entwicklungen unserer Zeit zu sagen hat, das geht dabei häufig unter.
Mills forschte und schrieb gegen genau jene ideologische Grundkonstellation der öffentlichen Debatte über Machtfragen an, die auch heute wieder so prominent vertreten ist. Auf der einen Seite Allmachtphantasien, in denen wahlweise eine finstere Elite im Verborgenen die Strippen zieht oder auf politischer Ebene der große Feind beschworen wird; auf der anderen Seite sozialwissenschaftliche Ohnmachtsdiagnosen, in denen bestehende Machtstrukturen weitgehend unsichtbar gemacht und damit legitimiert werden. Die Definitions- und Deutungshoheit in Sachen Macht- und Elitenkritik in den letzten Jahrzehnten hat sich immer mehr zugunsten der politischen Rechten verschoben, die sich sukzessive sozialwissenschaftliche und eher in der Linken beheimatete Konzepte angeeignet haben. Will man der Machtkritik der Rechten den Wind aus den Segeln nehmen, so wird es nicht ausreichen, diese schlichtweg als Verschwörungstheorien zu denunzieren. Vielmehr bestünde die Aufgabe darin, öffentliche Gegenerzählungen zu etablieren, die den simplen Verschwörungsnarrativen eine sozialwissenschaftlich fundierte progressive Macht- und Elitenkritik entgegensetzen. Und genau für ein solches Vorhaben ist von Mills einiges zu lernen.