Die Kurden, Spielball des Westens
Die Kurden sind das größte staatenlose Volk der Welt. Mehr als 30 Millionen Menschen, die bei uns als Türken, Syrer, Iraner oder Iraker gelten (um nur die vier wichtigsten Siedlungsgebiete zu nennen), weil sie einen entsprechenden Pass haben. In ihrem Buch „Die Kurden“ erzählen Kerem Schamberger und Michael Meyen die Geschichte dieser Menschen, wie sich die Westmächte den Nahen und Mittleren Osten nach dem Ersten Weltkrieg zurechtgeschnitten haben und warum die neuen Staaten in der Region kein Interesse an einer kurdischen Nation hatten. Vor allem aber zeigen sie, wie die Vergangenheit in der Gegenwart weiterlebt.
Geschichte wiederholt sich nicht, sagt man. Die Unterdrückung der Kurden aber geht weiter. Die Türkei führt seit Sommer 2015 Krieg im eigenen Land. Sie zerstört kurdische Städte und Dörfer, bringt dabei Zivilisten um, sperrt gewählte Bürgermeister ein. Die Türkei kann diesen Krieg führen, weil die Weltöffentlichkeit wegschaut. Weil Deutschland diesen Krieg durch die Brille der Regierung in Ankara sieht. Die PKK bleibt verboten, weil die Türkei von Terroristen spricht. Deutsche Polizisten verfolgen Menschen, die Symbole dieser Partei zeigen oder von Organisationen, die mit der PKK verbandelt sein sollen. Deutsche Firmen liefern Waffen in die Türkei, die in der Nato ist und überhaupt ein Paradies für Investoren. Im Oktober will Wirtschaftsminister Altmaier mit achtzig Industrievertretern in das Land reisen, um die deutschen Geschäfte voranzubringen. Die Türkei war schon immer unser Partner. Das zählt mehr als alle Menschenrechte.
Eigentlich sollte unser Buch „Das vergessene Volk“ heißen. Zu negativ, haben die Experten gesagt, mit denen wir gesprochen haben. Und: nicht mehr zeitgemäß. Spätestens seit der Befreiung von Kobanê im Januar 2015 stehen die Kurden im Scheinwerferlicht. Sie haben dem Islamischen Staat getrotzt. Ihre Frauen vor allem. Und sie versuchen, etwas Neues aufzubauen, eine neue Form der Demokratie jenseits aller Staatlichkeit, in Rojava, im Norden Syriens, mitten im Krieg, bekämpft von allen Seiten.
Wir sind für dieses Buch nach Rojava gefahren und in den Nordirak. Wir haben Journalistinnen und Wissenschaftler interviewt, Deutsche, Türken, Kurden, die gegen den Mainstream schwimmen. Die Geschichten dieser Menschen zeigen: Die kurdische Frage ist auch in Deutschland präsent. Und: Staat und Wirtschaft produzieren sich ihre Gegner selbst, nicht nur in der Türkei oder in Syrien, sondern auch hierzulande. Auch darum geht es in diesem Buch. Wir erzählen etwa die Geschichten von Nick Brauns und Michael Knapp, die in den 1990er Jahren in München und Coburg gegen die neuen Rechten demonstriert haben, gegen Kriege und gegen Weltwirtschaftsgipfel, und die dabei erlebt haben, dass die Polizei nicht die Nazis verprügelt, sondern sie, die Antifaschisten. Von da war es nicht mehr weit bis zu den „schnauzbärtigen Männern mit den bunten Fahnen“ (Brauns). Wir haben mit Reimar Heider gesprochen, Arzt und katholisch erzogen, der solche Männer 1993 in der Hochschulgemeinde traf und in der Kirche. Wenig später fuhr er in die Türkei, um Wahlen zu beobachten und Newroz, das kurdische Neujahrsfest, bei dem es ein Jahr zuvor in Cizre ein Massaker gegeben hatte. Er sah deutsche Panzer und deutsche Waffen, Morde auf offener Straße, abgebrannte Dörfer. Und er sah, was die deutschen Medien daraus machten: Nichts. Heute übersetzt Heider die Bücher von Abdullah Öcalan.
Ein Buch über die Kurden kann die PKK und ihren Gründer nicht auslassen. Ein Buch über die Kurden kann die türkische Linke nicht auslassen, Umweltschützer und Aktivisten. Ein Buch über die Kurden kann auch die Jesiden nicht auslassen. Und so ein Buch muss über Rojava schreiben – über die kurdischen Gebiete im Norden Syriens, die gerade eine Revolution erleben. Rojava: Dieser Name steht für eine Demokratie, in der tatsächlich jeder mitmacht und in der die Frauen eigene Räte haben, eigene bewaffnete Verbände und einen Platz in jeder Doppelspitze. Im Armenhaus der Welt. „Demokratischer Konföderalismus“ heißt dieses Konzept bei Abdullah Öcalan. Kommunen, die zusammenarbeiten und trotzdem selbständig bleiben, die sich selbst versorgen, Schulen, Krankenhäuser und Kooperativen betreiben und dafür keinen Staat brauchen, keinen eigenen jedenfalls. Kein Groß-Kurdistan, keine neuen Grenzen.
Die Kurden? Die wollen einen Staat. Das ist das erste, was man hört, wenn man irgendwem von diesem Buch erzählt. Und: Das geht doch nicht. Wo soll das bloß noch hinführen? Genau. Längst nicht alle Kurden wollen einen eigenen Staat – zumindest die nicht, die sich den Ideen Öcalans verschrieben haben. Das muss man erstmal zusammenbekommen: Ein „Terrorist“ auf der Seite des Fortschritts. Und die Bundesregierung auf der Seite der Reaktion. Bei den Kurden geht es in Deutschland auch um das Staatswohl. Seit Jahrzehnten. Auch das zeigt dieses Buch. Was die Kurden wollen? Demokratie und Gleichberechtigung.