Die Heartland-Theorie oder der Schlüssel zur Weltherrschaft
Wer das Herzland beherrscht, beherrscht die Welt. So lautet die Kernaussage der Heartland-Theorie, die Sir Halford Mackinder vor über 100 Jahren der britischen Königlichen Geografischen Gesellschaft vortrug und veröffentlichte. Man muss sich wundern, dass heutzutage kaum jemand von dieser Theorie weiß, ist sie doch auf das Hervorragendste geeignet, die aktuellen weltpolitischen Ereignisse zu erklären. Ein Auszug aus Mackinders Text, der diese Woche bei Westend neu aufgelegt wird, ergänzt um einen aktuellen und einordnenden Lagebericht von Willy Wimmer, der über lange Jahre Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium war.
Ist der unermessliche Raum Eurasiens, geprägt von seiner Unpassierbarkeit zu Wasser und seinen einst nomadischen Bewohnern, der heute im Begriff ist mit einem Netzwerk von Eisenbahnschienen überzogen zu werden, nicht die Drehpunktregion der Weltpolitik? Ich meine diese Frage bejahen zu müssen, denn bestehen und bestanden dort nicht bereits in der Vergangenheit die Bedingungen für eine Mobilität militärischer und ökonomischer Macht, die in einzigartiger Weise sowohl weitreichend als auch eingeschränkt ist? Russland ersetzt das Mongolenreich. Sein Druck auf Finnland, auf Skandinavien, auf Polen, auf die Türkei, auf Persien, auf Indien und auf China ersetzt die zentrifugalen Überfälle der Steppenvölker. In der Welt nimmt es die gleiche zentrale strategische Position ein, die Deutschland in Europa besitzt. Es kann in alle Himmelsrichtungen, mit Ausnahme des Nordens, angreifen und selbst angegriffen werden. Die volle Entwicklung seiner modernen Beweglichkeit auf Eisenbahnschienen ist nur eine Frage der Zeit. Außerdem ist es unwahrscheinlich, dass irgendeine denkbare gesellschaftliche Revolution etwas an seinen wesentlichen Beziehungen zu den gewaltigen geographischen Grenzen seiner Existenz ändern wird. In weiser Anerkennung der fundamentalen Beschränkung russischer Macht haben sich seine Herrscher von Alaska getrennt, da sich für Russland überseeische Besitzungen aus denselben Gesetzmäßigkeiten verbieten, aus denen sich für Großbritannien die Herrschaft über die Meere ergibt.
Außerhalb dieses Drehpunktraumes liegen in einem großen inneren Halbmond Deutschland, Österreich, die Türkei, Indien und China und in einer weiteren äußeren Sichel Großbritannien, Südafrika, Australien, die Vereinigten Staaten, Kanada und Japan. Im gegenwärtigen Zustand der Machtverteilung ist der Drehpunktstaat Russland nicht gleichwertig mit den peripheren Ländern und es besteht Raum für ein Gegengewicht in Frankreich. Die Vereinigten Staaten sind erst vor kurzer Zeit zu einer Macht im Osten geworden, was sich nicht unmittelbar, sondern erst über Russland auf das Gleichgewicht in Europa auswirkt, und die Amerikaner werden durch den Bau des Panamakanals in naher Zukunft Ressourcen von Mississippi und Atlantik im Pazifik zur Verfügung stellen. Aus dieser Perspektive betrachtet liegt die eigentliche Trennlinie zwischen Ost und West im Atlantischen Ozean.
Die Neuordnung des Gleichgewichts der Kräfte zugunsten des Drehpunktstaates, die seine Expansion über die am Rande gelegenen Staaten Eurasiens zur Folge hätte, würde den Einsatz seiner ungeheuren kontinentalen Ressourcen zum Flottenbau ermöglichen und ein Weltimperium hervorbringen. Dazu könnte es beispielsweise kommen, sollte Deutschland ein Bündnis mit Russland eingehen. Die Gefahr eines solchen Ereignisses würde Frankreich zu einer Allianz mit den Überseemächten bewegen und Frankreich, Italien, Ägypten, Indien und Korea zu Brückenköpfen machen, von denen ausgehend die Seestreitkräfte dieser Allianz Armeen unterstützen könnten. Dadurch würde man die Drehpunkt-Verbündeten wiederum zur Stationierung von Landstreitkräften zwingen und somit davon abhalten, ihre ganze Kraft auf den Flottenbau zu konzentrieren. (…)
Ich habe hier als Geograph zu ihnen gesprochen. Das tatsächliche Gleichgewicht der politischen Kräfte zu jedem gegebenen Zeitpunkt ist selbstverständlich das Produkt der geographischen Gegebenheiten ökonomischer wie strategischer Art auf der einen Seite und Zahl, Potenz, Ausrüstung und Organisation der konkurrierenden Völker auf der anderen. Das Maß, in dem wir diese Gegebenheiten akkurat einschätzen, bestimmt die Wahrscheinlichkeit, etwaige Differenzen ohne den primitiven Rückgriff auf Waffengewalt zu lösen. Und die geographischen Gegebenheiten dieser Gleichung sind nicht nur besser messbar, sondern auch beständiger als die menschlichen. Aus diesem Grund liegt es nahe, dass sich unsere Formel gleichermaßen auf die historische Vergangenheit wie auch auf die gegenwärtige Politik anwenden lässt. Die gesellschaftlichen Bewegungen der Geschichte spielten sich im Wesentlichen im Rahmen derselben äußerlichen Gegebenheiten ab, und ich zweifle doch sehr daran, dass langsam fortschreitende Änderungen dieser Umstände, wie die allmähliche Austrocknung Asiens und Afrikas, selbst wenn man sie beweisen sollte, in historischer Zeit die menschliche Umgebung grundlegend verändert haben. Der Westmarsch der Imperien scheint mir eine kurze Wendung marginaler Macht um den südwestlichen und westlichen Rand des Drehpunktraums zu sein. Die Fragen des Nahen, Mittleren und Fernen Ostens stehen in enger Beziehung zum instabilen Gleichgewicht von inneren und äußeren Mächten in den Teilen des marginalen Halbmonds, wo lokale Macht gegenwärtig mehr oder weniger zu vernachlässigen ist.