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Christoph Butterwegge Christoph Butterwegge

Die geistige Armut der Großkoalitionäre

Wenn in Deutschland um den Begriff und die Verbreitung von Armut gestritten wird, dann geht es nur vordergründig um Definitionen und wissenschaftliche Methoden – tatsächlich geht es um knallharte Interessenpolitik. Je größer die Armut hierzulande wird, umso hartnäckiger das Leugnen derer, die ihren Reichtum oder ihre Macht bedroht sehen, und umso härter ihre Schläge gegen alle, die sich mit der sozialen Spaltung in Deutschland nicht abfinden wollen. Christoph Butterwegge, der von der Partei Die Linke nun als Kandidat für die Bundespräsidentenwahl aufgestellt wurde, ist ein renommierter Kritiker des neoliberalen Mainstreams. Im folgenden Beitrag (wie auch im von Ulrich Schneider herausgegebenen Buch „Kampf um die Armut“) setzt er sich dezidiert mit der „Armutspolitik“ der aktuellen großen Koalition auseinander und entlarvt schon allein anhand des Koalitionsvertrag ihr Versagen in diesem Bereich.

Nimmt man das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 1 GG und Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) ernst, gehört die Armutsbekämpfung zu den zentralen Aufgaben sämtlicher Staatsorgane. Gleichwohl hat bisher keine Bundesregierung die Armut im reichen Deutschland als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt betrachtet, der man konsequent entgegenwirken muss. Armutsbekämpfung war infolgedessen eine sträflich vernachlässigte Regierungsaufgabe. Auch in der zweiten Großen Koalition unter Angela Merkel zeigen CDU, CSU und SPD für das Kardinalproblem unserer Gesellschaft keinerlei Sensibilität. Vielmehr kommt das Wort „Reichtum“ in dem mit „Deutschlands Zukunft gestalten“ überschriebenen Koalitionsvertrag für die 18. Legislaturperiode auf 185 Seiten nur als „Ideenreichtum“ und als „Naturreichtum“ sowie der Begriff „Vermögen“ nur als „Durchhaltevermögen“ und im Zusammenhang mit der Vermögensabschöpfung bei Kriminellen vor. „Armut“ taucht zwar zehnmal im Koalitionsvertrag auf, größtenteils aber in fragwürdiger Art und Weise.

Zuerst firmiert das Motto „Altersarmut verhindern – Lebensleistung würdigen“ (Seite 10) als Zwischenüberschrift zur Rentenpolitik der künftigen Regierungskoalition. Darunter heißt es, die sozialen Sicherungssysteme, auf die sich die Menschen in unserem Land verlassen können müssten, schützten vor Armut und seien Ausdruck des Zusammenhalts unserer Gesellschaft. Beide Formulierungen legen den Schluss nahe, dass Altersarmut in Deutschland (noch) nicht existiert, denn von der Notwendigkeit ihrer Bekämpfung, Verringerung oder Beseitigung ist nirgends die Rede.

CDU, CSU und SPD wollen „den Kampf gegen Bildungsarmut fortsetzen und intensivieren“ (Seite 33). Während von Kinder- und Jugendarmut an keiner Stelle die Rede ist, erscheint der Begriff „Bildungsarmut“, mit dem im Koalitionsvertrag die Alphabetisierungsbemühungen von Bund und Ländern begründet werden, insofern missverständlich, als er zur Verwechslung von Ursache und Wirkung geradezu einlädt. Trotz verbreiteter Vorurteile sind Menschen nicht wegen mangelnder Bildung arm – drei Viertel der Beschäftigten im Niedriglohnsektor verfügen über einen Berufs-, 11 Prozent sogar über einen Hochschulabschluss –, sondern Armut führt umgekehrt zu ihrer Benachteiligung im Bildungsbereich.

Dem hierzulande vorherrschenden Armutsverständnis gemäß wird das Phänomen im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD hauptsächlich mit der „Dritten Welt“ in Verbindung gebracht. Nicht weniger als viermal taucht Armut in diesem Zusammenhang auf, der jedoch verdeckt, dass sie in einem reichen Land wie der Bundesrepublik – wenn auch in anderer, weniger dramatisch wirkender Form – gleichfalls existiert und für die davon Betroffenen hierzulande sogar erniedrigender, demütigender und demoralisierender sein kann. Forschung und Forschungskooperation (besonders mit Afrika) werden als Instrumente genannt, mit denen der „Teufelskreis von Armut und Krankheit in Entwicklungsländern“ durchbrochen werden könne (Seite 34). Folgerichtig setzen sich die Regierungsparteien für „nachhaltige Entwicklung und Armutsbekämpfung“ (Seite 168) ebendort ein. Ziel der großkoalitionären Entwicklungspolitik sei es, „auf der Grundlage unserer Werte und Interessen (!?) weltweit Hunger und Armut zu überwinden“ (Seite 180). In den ärmsten Ländern der Erde sollen die Anstrengungen zur „Überwindung von Hunger und Armut“ (Seite 182) verstärkt werden.

Gleich dreimal wird im Koalitionsvertrag das Wort „Armutswanderung“ bzw. „Armutsmigration“ (Seite 108) verwendet. Gemeint sind Bulgaren und Rumänen, denen man eine „ungerechtfertigte Inanspruchnahme von Sozialleistungen“ vorwirft, wodurch deutsche Kommunen übermäßig belastet würden. Auch wenn die sozialen Problemlagen einzelner Großstädte (Mannheim, Duisburgs, Dortmund) bei der Unterbringung, Existenzsicherung, Gesundheitsversorgung und Integration treffend beschrieben werden, leistet der Koalitionsvertrag rassistischen Ressentiments dadurch Vorschub, dass er der „Migration in die sozialen Sicherungssysteme“ entgegentritt, ohne Not und Elend der Herkunftsländer zu erwähnen und zu berücksichtigen, dass die Mehrheit der zugewanderten EU-Bürger teilweise hoch qualifizierte Arbeitskräfte in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen sind.

Glaubt man dem Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD, gibt es in Deutschland gar keine Armut, es sei denn, dass sie durch unerwünschte Zuwanderer importiert wird. Mit dem im Koalitionsvertrag auch von der Sozialdemokratie bestätigten Merkel-Mantra „Keine Steuererhöhungen – für niemand!“ wird die selbst im Vierten Armuts- und Reichtumsbericht der schwarz-gelben Koalition eingeräumte Verteilungsschieflage akzeptiert und das Auseinanderfallen der Gesellschaft forciert. Selbst der allgemeine Mindestlohn, den die Koalitionspartner zum 1. Januar 2015 per Gesetz eingeführt haben, steht für sie nicht im Kontext der Armutsbekämpfung, obwohl der ausufernde Niedriglohnsektor das Haupteinfallstor für heutige Erwerbs- und künftige Altersarmut bildet. Sonst hätten CDU, CSU und SPD die offizielle Lohnuntergrenze nämlich kaum bis 2017 bei 8,50 Euro festgeschrieben. Denn schon heute reicht diese Höhe selbst bei Vollzeiterwerbstätigkeit nicht aus, um in Würde leben, eine Familie ernähren und ohne Inanspruchnahme der Grundsicherung altern zu können …

 

Ulrich Schneider - Kampf um die Armut

Ulrich Schneider
Kampf um die Armut
Von echten Nöten und neoliberalen Mythen

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