Die andere Seite des Krieges – Gespräche mit den Soldaten des Sechstagekriegs
Nach dem Sechstagekrieg von 1967 initiierte Avraham Shapira zusammen mit Amos Oz das wohl einflussreichste Buch der israelischen Geschichte. „Gespräche mit israelischen Soldaten“ entstand zu einem Zeitpunkt, in dem sich das Land in einem Siegesrausch befand und zeigt die wahre Seite eines Krieges, der das geopolitische Geschehen in der Region bis heute prägt. Vom israelischen Militär zensiert und in der Öffentlichkeit heftig umstritten, nahmen die beiden Autoren die Gefühle der Soldaten in den Blick: „Kein Mensch sprach vom menschlichen Leid und erst recht nicht vom besiegten Feind. Wir hatten das Gefühl, dass man von Mensch zu Mensch gehen und erfahren muss, was die Kämpfer auf dem Schlachtfeld erlebt haben und was sie nach dem Schlachtfeld erlebten.“ Am 10. Juni jährt sich das Ende des Sechstagekrieges zum 50. Mal – eine Zeit, in der die aufgezeichneten Gespräche nichts an ihrer Aktualität und Brisanz eingebüßt haben.
Aus dem Vorwort von Amoz Oz
In Hulda fiel ein Sohn, ein Fallschirmspringer. Nachdem ich vom Krieg zurückgekehrt war, ging ich zu seinen Eltern. Einige Freunde waren da. Die Mutter weinte. Der Vater biss auf seinen Lippen herum. Jemand von den Alten versuchte, sie zu trösten, und sagte: „Schaut, wir haben doch, trotz allem, Jerusalem befreit … Er ist doch nicht umsonst gefallen.“ Da brach die Mutter in Heulen aus und schrie: „Die ganze Westmauer ist mir nicht einen Fingernagel von Micha wert.“ Wenn du mir sagen würdest, dass wir um unsere Existenz kämpften, dann hatte sein Opfer einen Sinn. Wenn du mir aber sagst, wir hätten um die Mauer gekämpft, dann nicht. Verflixt, ich habe eine Beziehung zu diesen Steinen … doch es sind nur Steine. Und Micha war ein Mensch. Und wenn man heute die Westmauer mit Dynamit sprengen würde und dies Micha wieder lebendig machte, dann würde ich sagen: „Sprengt!“
Alles fing an mit einer Unterhaltung zwischen mir und Avraham Shapira. Das Gespräch, bei dem vielleicht dieses Buch geboren wurde, es entstand aus dem gemeinsamen Gefühl, als nach dem Sechstagekrieg im Land ein Art Siegesrausch herrschte: Das Land schäumte regelrecht über und die Euphorie kannte keine Grenzen. Siegesalben, Siegesbücher, Siegeskult, Heldenkult, Nationalkult, Kult um die heiligen Orte. Doch kein Mensch sprach vom menschlichen Leid und erst recht nicht vom besiegten Feind. Wir hatten das Gefühl, dass man von Mensch zu Mensch gehen und erfahren muss, was die Kämpfer auf dem Schlachtfeld erlebt hatten und was sie nach dem Schlachtfeld erlebten. Bei dieser ersten Begegnung wussten wir noch nicht, dass daraus ein Buch werden sollte, und sprachen nicht über eine mögliche Veröffentlichung. Nur diese Idee, mit den Menschen über das zu reden, was sie im Krieg erlebt hatten, wurde bei dieser Unterhaltung geboren. Die Schlüsselfrage war: Was habt Ihr gefühlt? Die einzigen Gefühle, die in der Öffentlichkeit zum Ausdruck kamen, waren Gefühle der Euphorie, der Ekstase, des Siegesrausches. Es gab natürlich auch die Eltern, die ihre Söhne verloren hatten, und man hatte sie zu Wort kommen lassen und ihnen zugehört. Es gab ihren Schmerz, aber irgendwie wurde dieser Schmerz von den Siegesfeiern verdeckt. Vielleicht ist das bis zu einem gewissen Punkt sogar verständlich: Das jüdische Volk, das fast 2 000 Jahre lang keine militärische Macht besaß und oft Opfer derselben wurde, stellte plötzlich fest, dass es plötzlich selbst Macht besaß. Da war es fast menschlich, dass es sich berauschte, als es feststellte, dass diese Macht Erfolge bringen, ja, Wunder bewirken konnte. Es nahm auch nicht wunder, dass diese Macht den Menschen zu Kopf stieg und sie außer sich waren.
Auch ich kannte diese Gefühle der Freude und Befreiung: In nur wenigen Tagen wurde aus der Angst der bevorstehenden Vernichtung die Freude über einen fast übernatürlichen Sieg – wir alle empfanden das wie ein Wunder. Doch bei unseren Treffen für Gespräche mit israelischen Soldaten (Anm. d. Übersetzers: Titel der deutschen Erstauflage) wurde deutlich, dass wir alle auch andere Gefühle hatten und darüber sprechen wollten.
Bei den Versammlungen in den Kibbuzim kamen diese Gefühle nicht vor und auch nicht in den Zeitungsinterviews. In den Zeitungen konnte man vor allem lesen: Es gab einen Flankenangriff von rechts, einen Flankenangriff von links, wir haben einen Hinterhalt gelegt, wir haben sie überwältigt, es war sehr schwer, es gab einen grausamen Kampf. Die andere Seite fand keine Beachtung, nirgends, nicht in den Zeitungen, nicht in den öffentlichen Gesprächen – allenfalls in persönlichen Gesprächen zwischen Freunden. Ich weiß es nicht, da diese Gespräche von Natur aus privat sind. Ich vermute aber, dass viele Kämpfer nach ihrer Heimkehr vom Krieg auch die Gefühle der Qual mit ihren Freundinnen oder Frauen geteilt haben. Das Wort »Qual« ist hier ein sehr wichtiges Wort. Es ist gewissermaßen ein Schlüsselwort im Text von Gespräche mit israelischen Soldaten. Denn es gab diese Qual. Ich weiß nicht, ob wir die Zukunft vorhergesagt haben. Wir erlebten die Gegenwart und sahen, dass diese nicht so einfach war, wie es die allgemeine Stimmung suggerierte. Die Menschen dachten, dass es Frieden geben würde und sich die Araber schon damit abfinden werden, dass sie machtlos sind und ihre Niederlage schließlich akzeptieren. Vielleicht werden wir sogar weitere Gebiete einnehmen – wir haben Jerusalem befreit, wir haben die heiligen Stätten befreit, wir sind bis Scharm el-Scheich gekommen! Im Gegensatz zur allgemeinen
Empfindung, dass jetzt alles gut werden würde, hatte ich das Gefühl, dass das, was zu Ende ging, eigentlich erst der Anfang gewesen war. Ich hatte das Gefühl, dass das Blutvergießen und das Leid nicht zu Ende waren.
Ich werde etwas erzählen, was in Gespräche mit israelischen Soldaten nicht vorkommt. Am ersten Kriegstag, am 5. Juni 1967, stand ich um acht Uhr morgens zwischen den gepanzerten Fahrzeugen in der Division von General Tal auf der Straße nach Rafiach – eine halbe Stunde später rollten wir hinter den Panzern und allen übrigen Fahrzeugen in die Stadt ein. Und da sah ich zum ersten Mal einen toten Menschen in diesem Krieg: Am Wegesrand lag ein getöteter ägyptischer Soldat auf dem Rücken. Seine Gliedmaßen waren weit ausgebreitet und seine Augen noch offen. Ich sah ihn an und sagte: »Ich werde in meinem Leben nie wieder essen und trinken können.« Nicht länger als sechs oder sieben Stunden später stand ich in Scheich Zawid, umgeben von ägyptischen Gefallenen. Ich trank Wasser aus meiner Feldflasche und hörte der Musik aus dem Transistor zu. Die Verwandlung, die ich in diesen sieben Stunden erlebt hatte, diese Verwandlung war unbegreiflich. Ich kann mich an noch etwas erinnern. Ich erinnere mich, wie ich mit einigen anderen Soldaten am Abhang einer Sanddüne im Sinai sitze. Das war am ersten Tag des Krieges, und plötzlich wird auf uns von der nächsten Düne mit einem Mörser geschossen. Natürlich legten wir uns flach hin und suchten Schutz. Ich sah die Menschen, die auf mich schossen. Und was war mein erster Instinkt? Nicht Feuer erwidern, nicht abhauen, nicht nach Verstärkung rufen, sondern: die Polizei rufen! Ich dachte, diese Menschen sind nicht normal, sie kennen mich nicht, warum schießen sie auf mich? Dieser Instinkt, die Polizei zu rufen, war eigentlich vollkommen normal. Aber alles, was danach kam, war nicht mehr normal. Es kam der Wahnsinn des Krieges. Aber dieser Instinkt, die Polizei zu rufen, fremde Menschen schießen auf mich, das war ein völlig normaler Instinkt. Das war der letzte Rest der zivilen Ordnung, der zivilen Moral.