/Kommentare/Die Anbetung der Digitalisierung beenden

Die Anbetung der Digitalisierung beenden

Marie-Luise Wolff fordert die Rückkehr zu echten Beziehungen und zur Realwirtschaft. Denn moderne Monopolunternehmen wie Apple, Amazon, Facebook oder Google haben mit der Digitalisierung eine neue Superideologie erfunden, die weder Fortschritt noch Werte geschaffen hat. Ihr Geschäft ist vielmehr der Verkauf unserer persönlichsten Daten, die auch zur Überwachung missbraucht werden. Es wird Zeit, die Anbetung der Digitalisierung zu beenden und sich einer modernen Wirtschaft zuzuwenden, die nachhaltige Werte schafft.

Mit Anbetungen bin ich im katholischen Elternhaus aufgewachsen. Heilige und Engel sind mir immer noch geläufig. Verständlich, dass in modernen Zeiten Ersatz gesucht wird für etwas, bei dem Erleuchtung und Trost gleichermaßen zu finden sind. Digitalisierung scheint den Ausgleich zu bieten, dazu im hypermodernen Gewand. Kein Begriff, der in der Wirtschaft häufiger gebraucht wird, Digitalisierung als Sound der Zukunft, als schnelles Rezept gegen alles Alte, glamourös, für jeden da, 24/7 vereinfacht sie das Leben, gibt Orientierung, schafft Reichtum, ist Freund und Leader, so heißt es.

Das Digitale ist allgegenwärtig. Durch die Herausforderungen der Corona-Pandemie hat sich auch in Deutschland seine Anbetung als vermeintliches Allheilmittel noch einmal verstärkt. Halfen uns digitale Geräte nicht über erzwungene Beschränkungen hinweg? Für diesen Notfall war digitale Kommunikation ideal. Doch Digitalisierung bekämpft Covid-19 nicht. Sie entwickelt kein Medikament und keinen Impfstoff – sie kann allenfalls bei der gerechten Verteilung derselben hilfreich sein und die Vernetzung der Wissenschaftler vereinfachen. Genauso wenig löst Digitalisierung die sich verschärfende Klimakrise, sie hilft nicht gegen Vermüllung und Überfischung der Weltmeere und letztlich wird sie auch nicht im Alleingang die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen und europäischen Wirtschaft sicherstellen. Eine allumfassende, ungesteuerte Digitalisierung sämtlicher Lebens- und Wirtschaftsbereiche bringt uns als Gesellschaft nicht weiter und löst auch nicht die drängenden Fragen der Zeit.

Zu Beginn der 2010er Jahren habe auch ich der Digitalisierung geradezu reformatorische Kraft zugetraut. Zu verführerisch klangen schließlich die Versprechungen der Apologeten vor allem aus dem Silicon Valley: weniger Bürokratie, weniger Hierarchie, weniger Patriarchat. Mehr Demokratie, mehr Teilhabe, mehr Fortschritt. Zehn Jahre später ist die Bilanz für mich ernüchternd – mehr noch: Meines Erachtens überwiegen die Fehlentwicklungen in Sachen Digitalisierung – so stark, dass es an der Zeit ist, eine Gewinnwarnung für das Digitale auszusprechen. Denn irgendwann haben wir als Gesellschaft, aber auch als Unternehmen aufgehört, das Digitale und seinen Nutzen zu hinterfragen. Haben uns von immer neuen Geräten, Features, Anwendungen einfach überrennen lassen. Haben uns nicht mehr oder zu wenig gefragt, ob es wirklich sinnvoll ist, rund um die Uhr Nachrichten miteinander auszutauschen, den Datensammlern zu vertrauen oder die Auswahl unseres Urlaubsortes und gar unserer Lebenspartner Algorithmen zu überlassen.

Ein digitaler Messenger, der gleichzeitig meine Konsumwünsche kennt, der meine Nachrichtenbedürfnisse befriedigt, meine Korrespondenz und meine Bankgeschäfte erledigt, baut eine Abhängigkeitsarchitektur auf, die ich bald nicht mehr durchschauen kann. Die 24/7 Bereitstellung sämtlicher Güter mit Liefergarantie oft noch am gleichen Tag lässt nicht nur unsere Innenstädte weiter veröden sondern sorgt auch für Abermillionen prekärer Arbeitsplätze. Und schließlich löst eine Marsmission kein einziges Menschheitsproblem wie auch superschnelle Magnetröhren keine Mobilitätsprobleme.

Digitalisierung kann immer nur Mittel zum Zweck, nicht der Zweck selbst sein. Sie muss dringend geführt werden, damit sie gut wird. Zu entscheiden ist immer zuerst, was wir damit anfangen wollen. Technologie darf nicht uns Menschen treiben, denn digitale Technologien und soziale Medien haben unreguliert die Kraft, uns in unseren fundamentalsten menschlichen Eigenschaften zurückzuentwickeln. Einschränkungen in der Konzentrations- und Denkfähigkeit, Rückbildungen in Sprache, Kommunikation, psychischer Widerstandsfähigkeit und Empathie sind bereits messbare Resultate dieser Fehlentwicklung. Dagegen müssen wir uns als Gesellschaft wehren, aber auch jeder Einzelne kann beginnen Gegenstrategien zu entwickeln. Wir dürfen unsere Zeit, unsere Denk- und Kommunikationsphasen nicht mehr durch Smartphones und Laptops besetzen lassen. Übrigens auch nicht die wertvolle Zeit unserer Familie, Freunde und Geschäftspartner – denn es ist nur zu offensichtlich, wie die Anwesenheit eines Smartphones der Qualität eines Gespräches und gemeinsamen Unternehmungen schadet.

Digitalen Heilsversprechen und immer neuem Internetspielzeug müssen wir mit echten Problemlösungen etwas entgegen setzen. Nicht Digitalisierung ist das Ziel, sondern die Beseitigung von Menschheitsproblemen unter Zuhilfenahme von Digitalisierung. Es ist Zeit für die Neuentdeckung der Realwirtschaft.

Marie-Luise Wolff

Marie-Luise WolffDr. Marie-Luise Wolff (1958) leitet als Vorstandsvorsitzende die ENTEGA AG, einen der großen deutschen Energieversorger in öffentlicher Hand, und ist Präsidentin des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft e.V. (BDEW). Die studierte Anglistin und Musikwissenschaftlerin hat über 30 Jahre Erfahrung in den verschiedensten Positionen der deutschen Industrie gesammelt. Darüber hinaus sitzt sie in zahlreichen Gremien und Aufsichtsräten, unter anderem im Kuratorium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Sie lebt in Köln und Darmstadt.

Bleiben Sie auf dem Laufenden

Ein- bis zweimal monatlich informieren wir Sie über Neuerscheinungen, aktuelle Kommentare und weitere interessante Aktionen

Overton Magazin