/Kommentare/Der Weihnachtshase

Der Weihnachtshase

„Hochverehrte Tiergenossen! Es gibt jetzt eine Alternative zum guten, alten Weihnachtsmann. Mich. Den Weihnachtshasen. Mich!“ sagte der Hase und erklärte ausführlich, womit in Zukunft zu rechnen ist. Für den vielfach ausgezeichneten Illustrator und Geschichtenerzähler Martin Baltscheit ist auch der Weihnachtshase kein Bilderbuch allein für Kinder. Mit seinen im wahrsten Sinne fabelhaften Geschichten spricht er Leser und Leserinnen jeden Alters an. Spannend, unterhaltsam und durchaus politisch erzählt er mit seinen Parabeln keine Märchen, sondern möchte einen Beitrag leisten, für Verständigung und Aufklärung.

Mit frischgebrühtem Filterkaffee sitzt der Weihnachtsmann beim Hasen, der nervös auf dem Schaukelstuhl herumwippt. Der Weihnachtsmann weiß: Geschenke aus Samt und Seide sind eine Sache, aber hier sitzt einer, der braucht etwas anderes: Zeit und Zuwendung. Und genau davon findet der Alte noch einen Rest unter seinem Kopfkissen und spricht: „Ich verstehe dich, mein
Freund. Da sind gute und schlechte Lebewesen, aber jedes hat seinen Sinn. Auch das Böse, denn es schärft unseren Blick für das Gute.“

„Fuchsleben sind sinnlos“, schnarrt der Hase.

„Nicht für Füchse.“

„Wolfsleben, Schlangen-, Katzen-, und Hundeleben. Alle sinnlos, du aber machst jedem eine Freude.“

„Wenn Schlangen, Katzen und Hunde gut zu ihren Familien waren …“

„ … waren sie meist nicht gut zu Hasen, Hühnern und Mäusen! Was glaubst du, wie das bei uns ankommt? Immer mehr Füchse und Wölfe kommen in unseren Wald und sie kommen nur deiner Geschenke wegen!“

„Auf einer Party von hundert Eichhörnchen ist auch für zwei weitere Gäste noch ein Tannenzäpfle drin. Der Wald ist groß genug für alle Tiere.“

„Und wenn sich die Neuen danebenbenehmen?

„Warum sollten sie das tun?“

„Weil sie nicht von hier sind.“

„Heimische Tiere benehmen sich auch daneben.“

„Aber die kenne ich! Sie verstecken ihre Gesichter nicht hinter fremden Federn. Das macht mir Angst!“, ruft der Hase und der Weihnachtsmann denkt, das Fremde also, und erinnert sich an die Zeit, als er vor vielen Jahren seine ersten Geschenke zu verteilen begann. Keiner wollte die bunten Päckchen haben, weil man dem großen Unbekannten im roten Mantel nicht über den Weg traute.

„Lieber Hase. Auch meine ersten Geschenke waren fremd und alle waren verpackt, also versteckt. Aber ist nicht gerade die Überraschung das schönste Geschenk? Das Neue, das Besondere, das Unbekannte, das Einzigartige?“

„Sagt wer? Der einzigartige Weihnachtsmann? Dann pass mal auf, ich werde dir zeigen, wie es sich anfühlt, wenn jemand Neues kommt!“

Da greift der Hase sich einen Wunschzettel und schreibt in großen Buchstaben:

„Ich wünsche mir einen neuen Weihnachtsmann!“

Der alte Weihnachtsmann sieht auf den Zettel, dann auf seine Uhr und sagt kühl: „Wenn du mir helfen willst, zeige ich dir, wo die Geschenkbänder sind.“

Aber der Hase schreibt weiter: „Ich wünsche mir mich als neuen Weihnachtsmann!“

Er springt vom Stuhl, pfeffert die Kaffeetasse ins Feuer, schießt wie eine Silvesterrakete durch die Hütte und singt: „Ich bin der neue Weihnachtsmann! Ich bin der neue Weihnachtsmann!“

Dann hüpft er über den Tisch, das Sofa und das Bett des alten Geschenkemeisters. „Ich bin der neue Weihnachtsmann! Ich bin der neue Weihnachtsmann!“

Ganz besoffen von sich selbst, zerbricht er den blauen Krug, reißt die Deko vom Kaminsims und bleibt am Ende atemlos vor dem roten Weihnachtsmantel stehen, streicht mit der Hasenpfote darüber und zischt: „Und dann, mein lieber Freund, wirst du sehen, wie man gerechte Geschenke macht. Aber zuerst werden die alten Plünnen entsorgt. Denn wenn ich komme, musst du gehen, und zwar für immer!“

Der Weihnachtsmann hat der seltsamen Verwandlung zugesehen und beschließt, in aller Ruhe zu handeln. Dazu packt er den Hasen bei den Ohren, öffnet die Tür und tritt den ungezogenen Gast mit einem segensreichen Fluch in den zuckersüßen Puschelschwanz. Das überhitzte Tier fliegt in einem kometenhaften Bogen aus der Hütte, zurück in den Frühling oder die Vergangenheit, aus der es wohl gekommen ist. Die Tür fällt ins Schloss, die Eiskrusten an den Fenstern zittern und der gewissenhafte, gute alte Weihnachtsmann macht sich an die Arbeit, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen.

Martin Baltscheit

Martin BaltscheitMartin Baltscheit, geboren 1965, studierte Kommunikationsdesign in Essen; Er hat viele Bilderbücher geschrieben und illustriert und bündelt seine zahlreichen Talente in den Produktionen von Theaterstücken, Hörspielen, Trickfilmen und Apps; Für seine Arbeiten erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, wie den Deutschen Jugendtheaterpreis 2010 und den Deutschen Jugendliteraturpreis 2011 für »Die Geschichte vom Fuchs, der den Verstand verlor«; Seine bekannteste Figur ist der Löwe, der nicht schreiben konnte; Martin Baltscheit lebt mit seiner Familie in Düsseldorf.

Bücher von Martin Baltscheit

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