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Der Sattmacher

Irgendwann kommen wir alle an den Punkt, an dem wir uns fragen: Soll mein Leben so weitergehen wie bisher oder soll es anders werden? Wer taugt dann als Kompass? Influencer, die sich super finden? Aktivisten, die in der Tagesschau landen? Oder die Stillen, die in der zweiten Reihe sitzen? Für die Journalistin Gisela Steinhauer ist die Antwort klar: Die originellsten Wege zeigen »schräge Vögel«, die ihre Flugrichtung ändern. In diesem Buch treffen sie aufeinander. Vom U-Boot-Kommandanten, der zum Schamanen wurde, über Cornelia Funke, die mit Fantasie Groß und Klein den Weg ins Leben erleichtert, bis zum Balletttänzer, der Lebensmittel vom Acker rettet. All diese Menschen können begeistern – vielleicht auch zu einem eigenen Neuanfang.

Ich sah Kaj Binder zum ersten Mal im Fernsehen. Meine Kollegin Nadine Minger hatte ein knackiges Kurzporträt über ihn gedreht, das mich so elektrisierte, dass ich ihm am Tag nach der Sendung schrieb. Motto: Ich muss Sie sofort sprechen! Alles an Kaj (allein schon das »j« in seinem Namen ließ auf einen besonderen Kaj schließen) war schwarz: Bart, Haare, Augenbrauen, ja sogar die Augen – geheimnisvoll dunkel.

Kaj war Anfang 30 und arbeitete als landwirtschaftlicher Helfer auf einem Biobauernhof in Kaarst. Nebenher aber, und das war die eigentliche Sensation, hatte er eine Privatinitiative gegründet: »Die Sattmacher«, eine Aktion, die Bäuche füllt und Gemüter bewegt. Die One-Man-Show bedeutete: Kaj Binder sammelt Obst und Gemüse, das aus den unterschiedlichsten Gründen nicht geerntet wird, stapelt es in roten oder grünen Euronorm-Transportkisten und verteilt es an Bedürftige. Obst und Gemüse, das auf den Feldern verrotten würde, wenn Kaj es nicht für gemeinnützige Tafeln rettete. Auf diese Weise werden tonnenweise Kartoffeln, Möhren, Kohlsorten durchs Umland gekarrt und bei den Hilfsstellen abgeliefert. Alles nach Dienstschluss. Also erst nach Feierabend. Vom einen Feld runter aufs andere Feld.

Ich konnte es nicht fassen. Da postet einer mal keine Poolfotos mit Caipi vom Urlaub, sondern Bilder vom Gemüsebeet und der Arbeit auf dem Acker. Und das, obwohl der Mann auf Instagram auch Tanznummern hätte zeigen können. Denn Kaj Binder ist ausgebildeter Musicaldarsteller. Gegen knapp 8000 Konkurrenten hatte er sich durchgesetzt und war bei der Castingshow Musical Showstar in die Endrunde gekommen. Auftritt also in der ersten Finalrunde, moderiert von Thomas Gottschalk. Live. Und auch wenn er in genau dieser ersten Runde schon rausflog, hatte er geschafft, was er sich vorgenommen hatte. Damals war Kaj 19. Ein Junge, der sich durchbeißt. Ein Mann, der später im Corona-Jahr auf dem rechten Unterarm das Bild eines Löwen trug, den ich aber nicht auf Anhieb erkannte.

»Der Löwe spiegelt meine Unaufhaltbar-Mentalität«, erzählte Kaj, als wir uns im Oktober 2020 trafen. Interessantes Geschöpf, dachte ich und schaute auf das grünliche Tattoo, das ein Wesen mit explodierter Mähne zeigte und das laut Kaj einige für einen Hasen hielten. Ich hatte immerhin auf Wolf getippt. Aber weder Löwe noch Hase noch Wolf sind naturgrün. Der Stecher war offensichtlich kein Profi gewesen oder er hatte Rabatt gewährt und sich weniger Mühe gegeben. Schade um den schönen Arm, aber dafür hatte ich schnell keinen Blick mehr, weil ich nach wenigen Minuten gebannt war von Kajs Bereitschaft, über sich selbst zu staunen und zu lachen.

Als Kind war er in Solingen zum Gesangs- und Ballettunterricht geschickt worden. Wer zu den Millionen Zuschauern gehört, die im Essener Colosseum das Musical »Elisabeth« gesehen haben, kennt Kaj Binder als Elfjährigen in der Rolle des Kronprinzen Rudolf. Später hatte er dann eine Ausbildung zum Musicaldarsteller gemacht, als Tanzpädagoge gearbeitet und schließlich ein Fitnessstudio eröffnet.

Ich fand bemerkenswert, wie vorsichtig er seine persön­liche Geschichte erzählte und wie sorgsam er dabei die Worte wählte, um niemanden zu verletzen. »Ein bisschen war ich so ein Karrierekind: beim Ballett und im Gesang sehr begabt, habe auch internationale Wettbewerbe gewonnen. Aber im Grunde wurde ich zwei Jahrzehnte lang zu etwas gedrängt, was nie wirklich meins war.«

»Warum hast du es dann gemacht?«

»Weil ich den Traum eines Familienmitglieds verwirklichen sollte.«

Ich fragte nicht weiter nach. Denn es war deutlich zu spüren, dass Kaj aus Respekt vor seiner Familie nicht mehr über diese Zeit sagen wollte.

Alle Achtung. Dass es im Befindlichkeits-Zeitalter, wo Menschen tagtäglich am Handy ihren Gefühlen freien Lauf lassen und so bereitwillig wie aufdringlich ihr Innerstes nach außen kehren (in der festen Überzeugung, dass alle anderen ihre Seelenquälchen mitkriegen müssen), also dass es in dieser »Rufen-Sie-uns-an-und-erzählen-Sie-uns-was-der-holzige-Spargel-dieser-Saison-mit-Ihnen-gemacht-hat-Welt« Typen wie Kaj Binder gibt, die ihre privaten Regungen nicht offenbaren wollen, nötigte mir eine Verbeugung ab. Szenenapplaus für den 31-Jährigen, der sich von seinen Bühnenjahren verabschiedet und eine komplett neue Rolle gesucht hatte. Weg von der »sehr schnellen, oberflächlichen Branche« hin zum Gemüsebeet, wo er seine neue Bestimmung fand. Und die Muskeln auf eine andere Art trainierte. »Mein Opa sagt immer: Das ist echte Maloche. Recht hat er!«

Der Alltag als landwirtschaftlicher Helfer war anstrengend, aber auch erfüllend. »Ich bin schwer ins Nachdenken über mich und unsere Gesellschaft gekommen«, sagte Kaj. »Ich habe Demut vor dem Produkt gewonnen. Ich glaube, viele haben nicht auf dem Schirm, was es bedeutet, wenn man bei sengender Sonne, bei heftigem Regen oder im Eisblizzard auf offenem Feld arbeitet und sich das ganze Jahr über um die Ernte sorgt.«

Im April 2020, also mitten im Corona-Lockdown, der sich nicht so anfühlte, weil ganz Deutschland bei schönem Wetter spazieren gehen konnte, hatte Kaj seine »Sattmacher«-Aktion gestartet. Euphorisch zu Beginn, dann aber zunehmend mit nüchternem Realismus, weil zwar alle das Projekt toll fanden, aber die wenigsten bereit waren, mit anzupacken. Er war enttäuscht. Als wir das Interview für meine Sonntagsfragen machten, war aus der Solonummer immerhin ein Quintett geworden. Ein paar Leute halfen ihm bei der Ernte und dem Transport. Aber das reichte natürlich bei Weitem nicht.

»Was hat dir der Berufswechsel gebracht?«

Kaj überlegte eine Weile und lächelte dann leicht verlegen. »Ein bisschen seelischen Frieden. Ich glaube, dass es beim Thema Lebensmittelverschwendung bei vielen noch nicht Klick gemacht hat. Und deshalb möchte ich Leute anstecken, mitzumachen. Es gibt bei uns so eine Grundunzufriedenheit. Ich fände es schön, wenn sich das ändern würde.«

Sein Wunsch wurde erfüllt. Die Reaktion auf unsere Sendung war sensationell. Von vielen Seiten wurde Kaj Hilfe zugesichert. Ein Hörer bot ihm ein Auto für den Gemüsetransport an, andere wollten auf dem Feld helfen, wieder andere ihn logistisch und finanziell unterstützen. Große überregionale Tageszeitungen berichteten über Kaj Binder. Außerdem kamen noch mehr Fernsehteams. Auch Nadine Minger drehte wieder, diesmal nahm sie das Wintergemüse ins Visier.

Wir freuten uns unbändig über den Erfolg und begannen eine Brieffreundschaft, wie wir das nannten, obwohl es ein Mailwechsel war. In der letzten Mail stand, dass sich Kaj nun komplett selbstständig gemacht und einen Verein gegründet hat. Wer mit ihm aufs Feld will: www.sattmacher.nrw. Und greifen Sie dem grünen Löwen bitte kräftig unter die Arme. Oder unters Fell?

Gisela Steinhauer

Gisela SteinhauerGisela Steinhauer, geboren 1960, ist Moderatorin bei WDR 2 ("Sonntagsfragen"), WDR 5 ("Tischgespräch") und bei Deutschlandfunk Kultur. Für ihre journalistische Arbeit wurde sie u.a. mit dem Kurt Magnus Preis, Radio Journal Rundfunkpreis und dem Deutschen Radiopreis ausgezeichnet. Sie lebt in Köln und Berlin.

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