Der Gärtner im Dschungel
Helmut Salzinger war Literaturkritiker der „Zeit“ und hatte Bücher über Walter Benjamin und über Musik geschrieben, als er sich Anfang der 1970er Jahre auf das Land zurückzog, um sich fortan möglichst biodynamisch mit Lebensmitteln zu versorgen. Wie bei einem Stadtmenschen und Intellektuellen naheliegend, ging das Unterfangen schief. Aber es bescherte dem Autor statt reichlich Gemüse tiefgehende Erkenntnisse , die er in dem Buch „Der Gärtner im Dschungel“ niederschrieb. „Wenn wir etwas vom Wesen des Menschlichen begriffen haben, dann dieses: dass der Mensch als Natur und Lebewesen von keinerlei Bestimmung über die Erde gesetzt ist, sondern dass er von gleicher Art ist wie alles Lebendige.“
Auf der Erde ist jeder menschliche Zugriff ein Angriff (auf etwas, das bereits vorher bestand). Und im Garten speziell bedeutet jeder Handgriff nicht nur Eingriff, sondern zugleich auch Übergriff. Jede Pflegemaßnahme bewirkt Störung und Zerstörung – neben aller Pflege.
Wenn ich das total verunkrautete Stück der Himbeeren säubere, damit Licht und Luft herankommen und der Boden abtrockne, dann rennen auch hier nach allen Seiten Spinnen und Käfer weg. Der Igel sieht sich entdeckt, und die Braunelle wippt nicht mehr auf den Stützdrähten für die Himbeerranken.
Überall – wörtlich: Überall lebt irgendwer. In diesem Sinne ist praktisch der gesamte Planet Erde von einer wimmelnden Hülle aus Leben umgeben, und da ist es unausweichlich, dass einer, wohin er tritt, einen andern tottritt, jedenfalls als Mensch, zumindest tendenziell. Wer dabei nicht mittun will, wird es schwer haben in seinem Leben.
Alles Lebendige verdankt sein Leben dem Ausgelöschtwerden von anderem Lebendigen, und niemand, es sei denn der Mensch, findet etwas dabei. Es findet auch niemand, es sei denn der Mensch, etwas dabei, sein Leben an ein anderes zu verlieren. Man wehrt sich dagegen, in Ordnung, mit allen Mitteln, letztlich mit Gewalt. Nur der Mensch hat es verstanden, dem allgemeinen Töten und Getötet werden innerhalb gewisser Grenzen Einhalt zu tun, indem er Regeln aufstellt, die es verbieten, und indem er notfalls mit Gewalt, dafür sorgt, dass sie eingehalten werden.
Dieses Regelsystem, das die Anwendung von Gewalt und das Töten reglementiert, macht einen wesentlichen Bestandteil dessen aus, was er seine Kultur nennt, und es hat zur Voraussetzung, dass es außerhalb dieses Bereiches nicht gilt. Lind zwar aus praktischen Gründen. Würde der Mensch generell auf das Töten oder auch nur auf die Anwendung von Gewalt verzichten, dann würde die wilde Natur, die an diese Konvention nicht gebunden ist, aus den Löchern, in die man sie zurückgedrängt hat, hervorbrechen und ungehindert in die Kulturräume eindringen, um sie in die Wildnis zurückzuverwandeln, der sie einst abgerungen worden sind.
Wenn gelegentlich zugunsten der Zivilisation vorgebracht wird, immerhin erlaube sie dem Einzelnen eine Lebensweise ohne die unmittelbaren Notwendigkeiten des Tötens, um sich seiner Haut zu wehren, die beim Leben in der Wildnis sozusagen Bedingung sind, so ist das zwar richtig, doch sollte dabei immer berücksichtigt werden, dass diesem Zustand in aller Regel ein umso gründlicheres Töten vorausgegangen ist, welches, um ihm Platz zu schaffen, sämtliche potentiellen Widersacher des Zivilisationsmenschen beiseite geräumt hat, meist ein für alle Mal.
Zu Zeiten hoher Kulturentwicklung und zivilisatorischer Gesittung wird dies gern vergessen und gut verdrängt. In dialektischem Gegenzuge erscheinen Natur und Wildnis als vergleichsweise harmlose, fast gemütlich Idylle, in die ein- oder heimzukehren, sein Traum den Zivilisationsmüden umso dringlicher einlädt je risikoloser und langweiliger sein gesellschaftlicher Alltag sich ihm darstellen mag.
Doch dieser Traum bleibt ein Traum. Die gute alte Wildnis ist nicht mehr, hier auf Erden nicht, und sie ist auch nicht wiederherstellbar, es sei denn um den Preis des Zusammenbruchs sämtlicher kultureller Errungenschaften zwischen Fortschritt und Demokratie, zu dem sie sich dann selbst wiederherstellt. Gelegentlich aber ist dieser Zusammenbruch bereits gegeben, wenigstens andeutungsweise. Etwa auf der nächtlich geheimen Abseite jener steinernen Dschungel zwischen Fortschritt und Demokratie, die wir unsere Zivilisation nennen und derer wir so müde sind. Auch in ihr ist Natur. Und es herrscht die Gewalt …
Überhaupt: Es ist alles möglich. Und es ist alles da. Nur nehmen muss man es sich. Manche tun das auch. Bei anderen trifft dies auf Widerstand. Gewalt entscheidet.