Der europäische Traum und ein schlimmes Erwachen
Nun ist er da, der Brexit. Aber vom Himmel gefallen ist er ganz sicher nicht. Man darf sich nichts vormachen, die sogenannte europäische Finanzpolitik stammt im Wesentlichen aus der Feder von Wolfgang Schäuble. Mahnungen und Warnungen gegen diese Politik haben es so gut wie gar nicht in die öffentliche Diskussion geschafft. Wir veröffentlichen hier nun einen Text von Heiner Flassbeck, der in seinem 2014 erschienenem Buch „66 starke Thesen zum Euro, zur Wirtschaftspolitik und zum deutschen Wesen“ seherisch voraussagte, was Europa aufgrund der deutschen Dominanz blüht – Brexit hin oder her.
Als ich ein Kind war, hielt ich wie die meisten meiner Generation ein in Freundschaft geeintes Europa für einen Traum. Noch gab es deutlich zu erkennende Grenzen und nie war klar, wie lange die brüchige Bindung zwischen den souveränen Staaten halten würde. Kaum über der Grenze, in Frankreich, war das Gefühl, in einem fremden Land zu sein, nicht von der Hand zu weisen. Über die Jahre gewöhnte man sich jedoch mehr und mehr an die Vorstellung, in einem ganz allmählichen und sanften Prozess werde Europa wachsen und die Nationalstaaten fast natürlicherweise kleiner werden, bis am Ende ein auch politisch geeintes Europa entstünde.
Mittlerweile lebe ich im dreizehnten Jahr in Frankreich und fühle mich aufgenommen wie jeder andere Bürger auch. Warum konnte es nicht so reibungslos weitergehen mit der europäischen Integration? Warum dieser existenzielle Schock, dem jetzt alle ausgesetzt sind und den wir Eurokrise nennen? Auf diese Fragen gibt es keine einfachen Antworten. Die Antworten, die es gibt, haben aber immer mit dem Versagen der Ökonomie beziehungsweise der Ökonomen zu tun. Wer das ausblendet, macht einen grundsätzlichen Fehler. Mittlerweile hat der deutsche Umgang mit der Krise bei vielen aufgeklärten Menschen auch in Deutschland und auch in manchen Medien erhebliches Unbehagen hervorgerufen, und ein politisches Umdenken deutet sich an. Dabei gibt es natürlich die unterschiedlichsten Positionen, deren Bandbreite man aber mit folgenden beiden Extremen markieren kann.
Die Zyniker sagen: Ist doch klar, was jetzt passiert. Politische Macht – und Deutschland ist nun mal mächtig – führt immer irgendwann dazu, dass Menschen diese Macht missbrauchen, ganz gleich, welche Ideale sie sich selbst einmal gegeben haben. Auf der anderen Seite stehen die Moralisten, die jetzt beginnen zu verstehen, wie viel kostbares politisches Porzellan Deutschland gerade zerschlägt, und warnend den Finger heben angesichts der fortschreitenden Desintegration. Beide Seiten sind im Grunde aber hilflos, weil sie weder Erklärungen haben für das, was geschieht, noch Alternativen anbieten können. Also schreiben sie Kommentare und reden in Mikrofone mit warnendem Unterton. Ohne inhaltliche Analyse bleibt das aber blass und kann keinen wirklichen Beitrag zur Änderung leisten. Man muss den großen und mühsamen Schritt in die inhaltliche Analyse machen, um weiterzukommen. Finanzkrisen sind auch von den Ökonomen weitgehend unerklärte Phänomene, und die inhärente Logik von Währungsunionen ist noch weniger verstanden. Der deutschen Kanzlerin und ihrem Finanzminister kann man vorwerfen, sich nicht breiter und unabhängiger beraten zu lassen; dass sie hilflos im Kreise rudern in einer Welt, in der die Mehrheit der sogenannten Wirtschaftswissenschaftler keinen wirklichen Rat bietet, ist nicht ihre Schuld.
Gut erkennen kann man das am Ablauf der ökonomischen Vorgänge während der deutschen Wiedervereinigung. Zunächst konnte man da sehen, mit welcher Kaltschnäuzigkeit in unserem doch so freien System mit Andersdenkenden und mit Menschen umgegangen wird, die in einem anderen Staat aufgewachsen sind. Ganz ähnlich ist unser Umgang mit den Südeuropäern. Noch schlimmer war die Art und Weise, mit der die deutsch-deutsche Währungsunion und mit ihr die ostdeutsche Wirtschaft und ihre Arbeitnehmer an die Wand gefahren und mit Geld zugekleistert wurden. Da musste man böse Vorahnungen für Europa bekommen. Mich beschlichen damals schon erste Zweifel ob der europäischen Währungsunion, weil ich dachte, so ein Versagen der Wirtschaftspolitik darf in einer europäischen Währungsunion niemals passieren, weil es Europa unweigerlich zerstören müsste. Doch genauso ist es gekommen.
Drei Dinge sind es vor allem, die grundlegend schiefgelaufen sind in Europa und die am Ende – das ist meine Überzeugung – den Euro zerstören werden, weil den entscheidenden Personen die Instrumente fehlen, die Krise analytisch zu durchdringen: Erstens, der deutsche Feldzug im Export. Er wurde begonnen und vorangetrieben von einer rot-grünen Koalition, die keinerlei wirtschaftspolitisches Konzept hatte und in ihrer Hilflosigkeit eine neoklassische Agenda vom Sachverständigenrat abschrieb. Den komplexen Zusammenhang von binnenwirtschaftlichem Niedergang und einer Explosion der Exportüberschüsse in einer Währungsunion haben bis heute die meisten nicht wirklich begriffen. Wie könnte ich da den Politikern vorwerfen, dass sie mit primitiven Floskeln um sich werfen und den Menschen nicht erklären, was geschieht? Wie könnte man Journalisten bei ihrem täglichen Kratzen an der Oberfläche vorwerfen, dass sie nicht zum Kern der Dinge vordringen, wenn ein paar tausend Ökonomen an wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten in lauten Jubel über die wunderbare Wirkung der Agenda 2010 ausbrechen, bloß weil sie ihre eigenen Vorurteile bestätigt? Der Kern der Geschichte, dass eine Währungsunion lediglich verlangt, dass sich jedes teilnehmende Land an seine eigene Produktivität anpasst und das gemeinsam beschlossene Inflationsziel akzeptiert, ist auch unter Ökonomen ein großes Geheimnis.
Noch wichtiger und noch geheimnisvoller: Produktivität umfasst alle wichtigen Bereiche des ökonomischen Daseins. Genau deswegen müssen diese Bereiche zwischen den verschiedenen Ländern einer Währungsunion gerade nicht vereinheitlicht werden. Denn durch die Anpassung jedes Landes an seine gesamtwirtschaftliche Produktivität ist der notwendige Ausgleich bereits geschafft. Wer wollte da einem Feuilletonisten wie Gustav Seibt verübeln, wenn er in der Süddeutschen Zeitung schreibt, Deutschland sei ja bloß »behäbig und rechtschaffen« in seinem Wohlstand und der böse Bube in Europa, weil die anderen eben nicht »behäbig und rechtschaffen« seien.
Zweitens, der Rückfall in Brüningsche Politik. Sparen als »Lösung« in Finanzkrisen ist nicht neu, obwohl es schon immer falsch war. Man muss sich vorstellen, dass der Internationale Währungsfonds über mehr als dreißig Jahre genau das allen Entwicklungsländern vorgeschrieben hat, die in irgendwelche Krisen gerieten. Weil die »Schulden« immer als zu hoch und der Staat als zu groß erschienen, wurde Austerität ein quasi natürlicher Bestandteil des Krisenmanagements. Das wuchs sich nie zu einer globalen Krise aus, weil die Weltwirtschaft immer weiter expandierte und die Länder ihre Währungen abwerteten, was den restriktiven Impuls der staatlichen Nachfragekürzung in der Regel mehr als ausglich. Dass das anders ist, wenn jeder dieses Rezept anwendet, ist eine gedankliche Schleife, deren Bewältigung man bisher leider nur von wenigen erwarten kann.
Darüber hinaus wurden »strukturelle Anpassungen« jahrzehntelang als Lösung für quasi jedes wirtschaftliche Problem verkauft. Die OECD, der IWF, die Weltbank und 90 Prozent der »Wissenschaft« predigen bis zuletzt, dass nur auf der Angebotsseite der Volkswirtschaft »Reformen« wirklich greifen. Die gesamte EU, an geführt von der Kommission, hat ebenfalls über Jahrzehnte »Wettbewerbsfähigkeit« zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Wirtschaftspolitik gemacht. Dass der Jurist, den man zum deutschen Finanzminister gemacht hat, dann konsequenterweise den unendlich naiven Satz »Alle müssen wettbewerbsfähig werden« sagt, wer wollte ihm daraus einen Vorwurf machen?
Drittens, die Rolle der Banken bleibt wohl auf immer unverstanden. Auch in der Asienkrise 1997/1998 war die Rolle der Banken ein großes Rätsel geblieben. Banken werden oft pauschal als Verursacher solcher Krisen gesehen, und manchmal sind sie es auch, wie in der großen Krise in den Industrieländern von 2008. Es ist aber keineswegs eine allgemeingültige Erklärung von Finanzkrisen. Die Mehrzahl der Krisen in der Vergangenheit waren Währungskrisen – und auch die Eurokrise ist eine –, also Krisen, bei denen es zu Über- und Unterbewertungen von Währungen oder Wirtschaftsräumen gekommen ist, die Änderungen der Währungsrelationen verlangten oder – wie beim Euro – die Änderung von Wettbewerbsrelationen über Lohnanpassungen. Auch in solchen Krisen treten vielfältige sekundäre Bankenprobleme auf, besonders wenn die Krise so schlecht gemanagt wird wie die Eurokrise, weil man die Krise von vorneherein als »Staatsschuldenkrise« falsch tituliert und am falschen Ende operiert hat. Die Neigung im linken politischen Spektrum, alle Krisen in einen Topf zu werfen und als »Bankenkrise« zu bezeichnen, ist jedoch genauso falsch und irreführend wie die Neigung auf der rechten Seite, alles zu einem Staatsschuldenproblem zu machen. Wer immer nur auf den politischen Gegner und die nächste politische Parole zielt, kann keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Armes Europa! Du hättest eine Chance verdient gehabt. Aber mit der Währungsunion, so gut sie gemeint war, bist du einen Schritt zu weit gegangen. Man hätte Institutionen und Menschen mit Macht gebraucht, die mehr analytische und weniger politische Fähigkeiten aufweisen. Aber die gibt es in Wirklichkeit wohl nicht. Deswegen können wir dir nur wünschen, dass du die Kraft aufbringst, einen Schritt zurück zu machen, bevor dich eine große Explosion viele Schritte zurückwirft und schwer verletzt.