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Denk ich an Deutschland in Europa

Die Präsidenten der Europäischen Union haben am 25. März dieses Jahres der Versuchung widerstanden, in einen nostalgischen Jubel zu verfallen, den Aufbau des Kontinents aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs nachzuerzählen und sich an einem relativen Frieden, der 70 Jahre in Europa existiert hat, zu berauschen. Vor allem hatten sie eine Union im Blick, die nach allen Richtungen erweitert wurde. Sie waren gewillt, sich den externen und internen Herausforderungen zu stellen: der gefährdeten Sicherheit, ungleicher wirtschaftlicher Entwicklung, sozialer Polarisierung und militärischer Konflikte in der Nachbarschaft. Trotz alledem bekannten sie sich zu einer gemeinsamen Zukunft der 27 Mitglieder und bekräftigen die Aussage aus der Berliner Erklärung vor zehn Jahren: „Wir sind zu unserem Glück vereint“.

Nach den „glücklichen“ Stunden und Tagen in Rom sind die Schatten des Europäischen Alltags wieder zurückgekehrt. Ganz wolkenlos hatte der Himmel selbst während der Festtage in Rom nicht gestrahlt. Gezielt waren die Kameras der Journalisten auf die couragierte polnische Ministerpräsidentin Beata Szydlo gerichtet, ob sie die Erklärung von Rom unterzeichnen würde; ihre Zustimmung hatte sie davon abhängig gemacht, dass das Wort „unterschiedliche Geschwindigkeit“ gestrichen würde. Dies wurde akzeptiert; anstatt des umstrittenen Begriffs stand im Dokument: „Gangart“. Die EU strahlt im schwingenden Modus der Verständigung, im Konsens. Bloß wie lange?

Weniger verständnisvoll klingt der aktuelle Umgangston zwischen einzelnen Mitgliedstaaten der EU beziehungsweise zwischen den zentralen Organen und den nationalen Regierungen, die jeweils auf ihre souveränen Rechte pochen. Griechenland ist erneut in den Strudel der notorischen Differenzen seiner Gläubiger geraten. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurde empört vermerkt, dass Athen seine Gläubiger an der Nase herumführe, indem es versprochene Reformen schon wieder verschiebt. Aber wer will es Alexis Tsipras verübeln, dass er die Meinungsverschiedenheiten zwischen dem deutschen Finanzministerium und dem IWF abwartend beobachtet, solange diese sich nicht über den Zeitpunkt einigen, wann die Tragfähigkeit der griechischen Schuldenlast zu überprüfen und darauf zu reagieren ist? Immerhin hatten die Staats- und Regierungschefs vor fünf Jahren erklärt, dass die Staatsschuldenkrise systemisch verursacht und nicht dem schwächsten Land zuzurechnen sei. Und kürzlich erst hat sich Außenminister Gabriel gegen Sanierungsrezepte einer rigiden Sparpolitik verwahrt, denen bloß eine höhere Arbeitslosigkeit und steigende Schulden folgen. Fast gleichzeitig schlug der österreichische Außenminister ein milliardenschweres Investitionsprogramm als zusätzliche Hilfe für Athen vor. Wolfgang Schäuble dagegen wandte sich gegen solche falschen Signale an die Griechen. Zudem erteilte er der EU-Kommission eine klare Absage, die für den Euroraum ein gemeinsames Budget vorschlug, womit finanzielle Krisen einzelner Länder abgefedert werden könnten.

Griechenland gilt zwar als dauernder Brandherd der EU, aber auch in anderen Regionen schwelen die Konflikte. Ungarn werde ein Fall für Brüssel, ahnte die Süddeutsche Zeitung in ihrer Karfreitagsausgabe. Die Kommission zeigt sich besorgt wegen des umstrittenen Hochschulgesetzes, ohne ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten. Da Geflüchtete in Ungarn für die Dauer des Asylverfahrens in Containerdörfer nahe der serbischen Grenze eingesperrt werden, überstellt Deutschland diese nur noch sehr eingeschränkt nach Ungarn, was faktisch einem Abschiebestopp gleichkommt.

Der Brexit ist ein riskanter Konfliktstoff für die Union und alle 27 Länder. Ein harter Austritt kann im Chaos enden. Dagegen sollten zweijährige Verhandlungen den Status der EU-Bürger in Britannien und der Briten in der EU, außerdem die finanziellen Folgen der Trennung und das Verhältnis zwischen dem Vereinigten Königreich und Irland klären. Doch welcher Typ eines Freihandelsabkommens steht zur Wahl ­­– der mit der Ukraine oder der mit Kanada? Und welcher Instanz eines Schiedsgerichts werden die Briten zustimmen?

Jean-Claude Juncker bewegt nach dem Brexit eine Sorge, dass sich die 27 Mitgliedsländer von den Briten gegeneinander ausspielen lassen. Umgekehrt empfinden einige EU-Staaten, dass die zentralen Organe der EU ihre ursprüngliche nationale Souveränität gering achten. In der Folge sind regionale Gruppenbildungen entstanden. Außer den Staaten der Visegrád-Gruppe haben sich, schon zum dritten Mal, sieben südeuropäische Staaten, nämlich Frankreich, Griechenland, Italien, Malta, Portugal, Spanien und Zypern zu einem offenen Meinungsaustausch getroffen, zuletzt am 10. April in Madrid. Wenngleich für die iberischen Länder der Brexit im Mittelpunkt stand, ging es auch um eine „neue Vision“ für den Kontinent, um andere als deutsche Prioritäten, nämlich Wachstum, Wohlstand, Investitionen, Arbeitsplätze, sozialen Schutz, Sicherheit und gemeinsame Einwanderungspolitik.

Solche Gruppenbildungen im Süden und Mittelosteuropa irritieren verständlicher Weise die Staaten „in der Mitte“, insbesondere die deutsche Regierung und deren wirtschafts- und fiskalpolitische Vorlieben. Zudem wehrt sich der französische Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon gegen die „deutsche Dominanz“, der sich Frankreich nicht unterwerfen sollte. Zugleich bekommt Deutschland das Unbehagen sowohl der Brüsseler Kommission als auch der IWF-Chefin Christine Lagarde zu spüren, dass die deutschen Überschüsse der Leistungsbilanz teilweise nicht gerechtfertigt seien.

Nach den Höheflügen der Repräsentanten in Rom melden sich ruckartig die alltäglichen und andauernden Rivalitäten der zwei Souveränitäten, dem Kennzeichen der Europäischen Doppeldemokratie. Wie lange hält die EU eine solche Statik asymmetrisch schwingender Architektur aus? Sollte sie nicht doch den Schritt eines mutigen Neustarts wagen: mit durchsichtigen, klar abgegrenzten Institutionen und Verfahren, in einer Balance zentraler Organe und nationaler Zuständigkeiten, mit wechselseitigem und kooperativen Respekt großer und kleiner Länder im Norden, Süden, Westen und Osten Europas sowie mit ziviler Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger als erstem Souverän der Europäischen Union? Eine Art Auferstehen am dritten Tag?

Friedhelm Hengsbach

Friedhelm HengsbachFriedhelm Hengsbach SJ ist Mitglied des Jesuitenordens. Er studierte Philosophie, Theologie sowie Wirtschaftswissenschaften und promovierte 1976. Hengsbach war bis 2006 Professor für Christliche Gesellschaftsethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main und Leiter des Oswald von Nell-Breuning-Instituts für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik. Er lebt und arbeitet in der Katholischen Akademie Rhein-Neckar in Ludwigshafen (Rhein). Bei Westend erschien von ihm zuletzt „Die Zeit gehört uns“ und „Teilen, nicht Töten“.

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