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Demokratie, Propaganda und die öffentliche Meinung

Die Grundlagen und Methoden der umfassenden Einflussnahme auf Bürger und Individuen in demokratischen Systemen wurden bereits 1922 in den USA durch Walter Lippmann erkannt und formuliert. Seine glänzende Analyse ist heute aktueller denn je: Wer begreifen will, wie die Methoden zur Meinungsmanipulation funktionieren und sich gegen den Zugriff auf die eigenen Vorstellungswelten und Meinungsbildung wehren will, kommt an der Lektüre des Klassikers von Walter Lippmann nicht vorbei. Lesen Sie zum Erscheinen der Neuausgabe des Buches am 1.8. den Kommentar des Herausgebers Walter Ötsch.

Was sind Tatsachen, was sind Fakten, welchen Nachrichten können wir vertrauen? Fragen dieser Art werden immer dringender. Der mächtigste Mann der Welt ist ein Meister darin, einen suggestiven Nebel über Ereignisse zu legen, sodass niemand mehr weiß, was wirklich geschehen ist. Donald Trump hat sich mit Putin in ein stilles Kämmerlein gesetzt und dort Vereinbarungen getroffen, über deren Inhalte niemand Bescheid weiß. Kraft seiner Propaganda soll das Land regiert werden, manchmal im Stundentakt wird von Trump eine neue Wahrheit aufgetischt.

Was geht hier vor, wie können wir solche Vorgänge verstehen? Vor 100 Jahren hat man im Klartext bezeichnet, um was es geht. Um Propaganda, nichts anderes. Heute spricht man vornehmer von Werbung, Public Relations, politischem Spin oder Lobbying, und so weiter – aber in der Sache hat sich nichts verändert. Ein klassisches Werk der Theorie von Propaganda ist Walter Lippmann Die öffentliche Meinung (1922). Wir haben es eben neu übersetzt. Das Werk ist erstaunlich modern und hat uns heute viel zu sagen.

Lippmann macht darin auf ein prinzipielles Problem aufmerksam: Zwischen den meisten Ereignissen (was wirklich geschehen ist) und dem, wie wir diese Ereignisse wahrnehmen und wahrnehmen können, klafft eine riesiges Loch. Eine eigene Welt tut sich auf. Lippmann spricht von der Pseudoumwelt, die aus den Bildern und Vorstellungen über die Ereignisse besteht: Wie stellen wir uns innerlich vor, was bei der Begegnung von Trump mit Putin wirklich passiert ist? Die Pseudoumwelt ist keine rein individuelle Welt, die sich jeder subjektiv basteln kann. Die Pseudoumwelt ist nach Lippmann – und jetzt wird es spannend – eine gemeinsam sozial gestaltete Welt. Sie ist imaginativ, aber sie ist real, weil wir immer – egal, ob wir Trump glauben oder nicht – in einer Vorstellungswelt leben. Jede Öffentlichkeit und jede öffentliche Meinung ist eine Pseudoumwelt. Öffentlichkeit beruht nicht nur auf Fakten, sondern auf inneren Bildern. Das hat Trump verstanden, und er inszeniert es in übertriebener Weise. Trump will die Bilder, die Vorstellungen, und damit auch die Gefühle manipulieren, die Menschen mit ihm verbinden. Sie sollen ihm – in ihrer Pseudoumwelt – folgen und großartig finden, was er macht. Äußere Ereignisse und Fakten sind dabei kaum von Belang.

Unabhängig von Trump ist das eine gefährliche Situation, vor allem für die Demokratie – darauf macht Lippmann in aller Klarheit aufmerksam. Denn die äußere Welt verschwindet ja nicht, nur weil wir beliebige Vorstellungen über sie besitzen. Lippmann spricht von der Handlungswelt. Das ist die wirkliche Welt. In dieser Welt handeln wir und unser Handeln hat reale Konsequenzen. Aber diese Folgen sind Ereignisse, die wiederum in eine Vorstellungswelt übersetzt werden müssen. Nach Lippmann gibt es ein zentrales Dreieck, das stets zu beachten ist: Mensch – Pseudoumwelt – Handlungswelt. Lippmann sagt: Hier liegt der Schlüssel, um die moderne Gesellschaft zu verstehen. Nur auf dieser Basis können wir der Frage nachgehen, wie die Gesellschaft gestaltet werden kann und wie sie sich in Zukunft entwickeln soll. Diese prinzipiellen Erkenntnisse werden heute wenig beachtet. In den Debatten über die Wirkung von Medien und dem Wahrheitswert von Nachrichten fallen sie meist unter den Tisch.

Lippmann entwickelt in seinem Buch in essayistischer Form eine umfangreiche Reflexion über die Gesellschaft und die Demokratie seiner Zeit. Lippmann argumentiert elitär: Eine Informationselite aus Experten soll die Demokratie retten, die „Masse“ ist dazu nicht in der Lage. Dazu wird eine unabhängige Behörde vorgeschlagen, die jene „Pseudoumwelt“ absichert, die den Entscheidungen der Politiker zugrunde liegen soll. Diese Vorschläge mögen naiv klingen, doch Lippmann hat eine zentrale Tatsache erkannt, die in der wechselseitigen Zuschreibung von „Wahrheit“ und „Lüge“ heute untergeht. Es geht nicht nur um „Manipulation“, sondern um die aktive und bewusste Formung einer Pseudoumwelt: Wie soll der soziale Raum der geteilten Bilder in der Gesellschaft beschaffen sein?

Das betrifft auch die Zukunft der Gesellschaft. Sie muss – Lippmann folgend – als Zukunftsbild imaginiert werden. Könnte man die Krise der Gegenwart – das ist mein persönlicher Kommentar – als Verlust einer bildergebenden Kraft wirtschaftlicher und politischer Eliten begreifen? Ist dies die Folge eines neoliberalen Denkens, das sich auch bei den Eliten durchgesetzt hat? Denn der Erfolg des Neoliberalismus hat zu einer enormen Abwertung der Politik geführt: Ihr wird keine gestalterische Kraft mehr zugetraut. Hat das auf die wirtschaftlichen und politischen Eliten selbst zurückgeschlagen? Sie hätten ja die Macht die Handlungswelt zum Besseren zu wenden. Warum liefern sie keine positiven Zukunftsentwürfe, die begeistern – andere Eliten in der Geschichte haben das zustande gebracht? Sind Sie womöglich Opfer ihrer eigenen Propaganda geworden? Haben Sie die Abwertung der Politik, die durch ihre Propaganda vermittelt wird, selbst schon verinnerlicht?

Folgt man Lippmann, dann ist aber keinesfalls gesagt, dass wir allein nach neuen bildersteuernden Eliten rufen müssen. Am Schluss des Buches keimt etwas Hoffnung auf. Lippmann deutet an, dass jede Pseudoumwelt Produkt von Imagination ist: Menschen sind (wie rudimentär auch immer) als schöpferische, bildschaffende Wesen anzuerkennen. Damit besitzen Sie (jedenfalls potentiell) die Freiheit zur Schaffung eigener Bilder.

Das hat zwei Komponenten: Die erste liegt in der Möglichkeit der politischen Bildung, insbesondere:

  • zu lehren, die Quellen von Informationen und insbesondere massenmedial erzeugten Bildern kritisch zu überprüfen;
  • das Wesen von Zensur zu erläutern und Kenntnisse von (vergangener) Propaganda zu vermitteln;
  • durch den »rechten Gebrauch der Geschichte die Stereotypen bewusst [zu] machen und ihnen [den Studierenden sowie Schülerinnen und Schülern, unsere Anmerkung] die Gewohnheit der Introspektion bei geistigen Vorstellungen anerziehen, die durch Gedrucktes hervorgerufen werden«;
  • »durch Kurse in vergleichender Geschichte und Anthropologie eine lebenslange Vergegenwärtigung der Art hervorrufen, wie die Codes der Phantasie ein besonderes Muster aufprägen« und
  • zu »lehren, sich selbst beim Bilden von Allegorien, beim Dramatisieren von Beziehungen und beim Personifizieren von Abstraktionen zu ertappen.

Die zweite Komponente – das ist mein letzter Kommentar – betrifft soziale und politische Bewegungen, denen die Zukunft der Demokratie ein Anliegen ist. Nimmt man Lippmann ernst, dann müsste ihre Hauptaufgabe darin liegen, attraktive Zukunftsbilder zu entwerfen, dafür Verbündete suchen und sich zu vernetzen. Es geht „nur“ um eine Pseudoumwelt. Aber sie ist eine Realität. Und nur auf diesem Weg kann eine künftige Handlungswelt positiv gestaltet werden.

Walter Ötsch

Walter ÖtschWalter Ötsch ist Professor für Ökonomie und Kulturgeschichte an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung. Er forscht zur Geschichte des ökonomischen Denkens und zur Wirkungsgeschichte des Neoliberalismus. Er ist Kommunikationstrainer und gefragter Experte für Rechtspopulismus. Zusammen mit Nina Horaczek ist er Autor des Buches "Populismus für Anfänger. Anleitung zur Volksverführung ", das 2017 imWestend Verlag erschienen ist und zu einem viel beachteten Bestseller wurde.

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