„Das Schachbrett des Teufels“
Hierzulande gerät Allen Dulles mittlerweile in Vergessenheit – zu Unrecht, denn der langjährige Chef der CIA spielte in der deutschen (Nach-)kriegszeit eine bedeutende und unheilvolle Rolle. Wie eng seine und die deutsche Geschichte verflochten sind, belegt Bestsellerautor David Talbot eindrucksvoll in seinem neuen Buch „Das Schachbrett des Teufels“.
Während des zweiten Weltkrieges war Dulles für das „Office of Strategic Services“ (OSS), dem Vorgänger der CIA, in der Schweiz stationiert. Informanten, Industrielle und Widerständler des Dritten Reichs, wie Fritz Kolbe, Sekretär des Auswärtigen Amtes oder Eduard Schulte, Generaldirektor des größten deutschen Zinkproduzenten, reichten sich in seiner Unterkunft in Bern die Klinke in die Hand. Unter Lebensgefahr überbrachten sie dem Spion Dokumente und geheime Informationen, in der Hoffnung, mit Hilfe der USA den Machenschaften der Nazis ein Ende zu bereiten. Doch Allen Dulles, der enge Kontakte zum Hitlerregime pflegte, verfolgte seine eigenen Pläne und bewahrte auch nach Kriegsende einflussreiche Nazis vor der Verurteilung, etwa bei den Nürnberger Prozessen. Für viele Naziverbrecher war er der sprichwörtlich letzte Strohhalm – im Deutschland der Nachkriegszeit hatten jene, die ihrer gerechten Strafe entgangen waren, deshalb oft den bitteren Spruch auf den Lippen: „Verloren wir doch alles, so haben wir noch Dulles!“
Auszug aus Kapitel 2: „Menschenrauch“
In der Schweiz eingetroffen, ließ sich Dulles Zeit, ein Treffen mit Eduard Schulte zu arrangieren. Als sich die beiden Männer im Frühjahr 1943 tatsächlich zu einer geheimen Unterredung trafen, war ihre Begegnung freundschaftlich genug; die beiden hatten sich, wie ihnen auffiel, bereits fünfzehn Jahre zuvor in der New Yorker Kanzlei von Sullivan & Cromwell kennengelernt, die Anaconda Copper vertrat, einen Geschäftspartner von Schultes Bergbaugesellschaft.
Das Schicksal des jüdischen Volkes brannte Schulte weiterhin auf der Seele – nun wohl umso mehr, als er sich bei einer seiner Reisen in die Schweiz in eine jüngere, in Zürich lebende Jüdin verliebt hatte. Aber Dulles zeigte wenig Interesse an Schultes Informationen über die »Endlösung«. Er war mehr an der politischen und seelischen Verfassung des deutschen Volkes interessiert und daran, wie man es auf die Seite der Alliierten ziehen könnte, daher bat er Schulte, ein Memo über die Stimmungslage der deutschen Nation zu verfassen. Der Geheimdienstler erachtete es als wichtig, Hitlers Gefolgschaft zu verstehen – nicht seine Opfer.
Das war charakteristisch für Dulles’ Begegnungen mit deutschen Informanten während seiner Stationierung in Bern. Fritz Kolbe, ein tüchtiger Konsulatssekretär, der trotz seiner hartnäckigen Weigerung, in die NSDAP einzutreten, im Auswärtigen Amt befördert wurde, war ein weiterer Maulwurf, der sein Leben riskierte, um den Vereinigten Staaten Einsicht in die Machenschaften des Deutschen Reichs zu verschaffen. Eines Abends überquerte Kolbe mit Dokumenten, die er unter der Hose an seinen Schenkel geschnürt hatte, die Grenze zur Schweiz und begab sich zu Dulles’ Berner Residenz. Wie Schulte war sich Kolbe der Gefahr, in die er sich begab, sehr bewusst. Nach dem Treffen mit dem amerikanischen Spion schrieb Kolbe sein Testament. Er hinterließ bei Dulles auch einen Brief an seinen kleinen Sohn, falls er gefangen und hingerichtet würde. Dulles blieb von Kolbes Bitte ungerührt. Der OSS-Agent schätzte ihn als »etwas naiven und romantischen Idealisten« ein, aus Sicht von Dulles keine Empfehlung, da er Leute dieses Schlags immer für entbehrlich hielt.
Doch Kolbe hatte wichtige Informationen mitzuteilen und riskierte weiterhin sein Leben, um Dokumente über die Grenze zu schmuggeln. Bei einem anderen Treffen im April 1944 übergab er Dulles ein dickes Bündel von Fernschreiben, die offenbarten, dass die ungarischen Juden, die bis spät in den Krieg hinein verschont geblieben waren, kurz davorstanden, zusammengetrieben und in Todeslager deportiert zu werden. Dulles’ Bericht über dieses Treffen war einer der wenigen aus Bern, die schließlich auf dem Tisch des Präsidenten im Weißen Haus landeten. Nur enthielt das Kommuniqué nichts, was auf das unmittelbar drohende Schicksal der ungarischen Juden deutete, geschweige denn einen Hinweis auf die Möglichkeit, die Eisenbahnstrecken zu den Todeslagern – oder sogar die Lager selbst – zu bombardieren, wozu Informanten wie Schulte die Alliierten drängten.
Stattdessen entschied sich Dulles, die Aufmerksamkeit des Präsidenten auf ein anderes Thema zu lenken, das er mit Kolbe bei einigen Gläsern Scotch in seinem Wohnzimmer erörtert hatte. Während die Kriegsanstrengungen der Nazis ins Wanken gerieten, schien sich in Deutschland der kommunistische Untergrund stärker zu organisieren. Das war der Ernstfall, über den das Weiße Haus nach Dulles’ Auffassung unterrichtet werden musste.
Über die folgenden sieben Monate erhielt Dulles von Kolbe weiterhin Dokumente über das Schicksal der ungarischen Juden. Ein deutsches Telex berichtete, dass 120 000 Juden in Budapest, darunter nicht arbeitstaugliche Kinder, bald »ins Reich geführt werden, um dort als Arbeitskräfte eingesetzt zu werden«. Die Nazis achteten stets sorgsam darauf, in ihren Mitteilungen Euphemismen wie »Arbeitsdienst« zu verwenden. Zu diesem Zeitpunkt war Washington bekannt, dass die ungarischen Juden nach Auschwitz abtransportiert wurden. Und doch verwendeten Dulles’ Kommuniqués an das OSS-Hauptquartier die gleiche banale Sprache wie die Nazis und bezogen sich vage auf die »Einziehung« der ungarischen Juden.
Als Dulles’ Berichte an Washington Jahrzehnte später von der Geheimhaltung befreit wurden, offenbarte sich den Historikern, was ihn während des Kriegs wirklich umtrieb. Dulles’ vorrangiges Interesse galt Tricks der psychologischen Kriegsführung wie die Verteilung von gefälschten Briefmarken hinter den feindlichen Linien, die Hitlers Profil als Totenkopf darstellten, und anderen Nacht-und-Nebel-Aktionen. Er beschäftigte sich außerdem intensiv damit, großartige Nachkriegsstrategien für Europa zu entwerfen. Aber nur wenige seiner über 300 Kommuniqués erwähnten die Ermordung der Juden – und keines vermittelte angesichts der drohenden »Endlösung« den Eindruck, dass dringend gehandelt werden müsse.
Dieser eklatante blinde Fleck in Dulles’ Tätigkeitsbilanz während des Kriegs gibt Historikern bis heute Rätsel auf, auch wenn sie vor einem harschen Urteil über den legendären Geheimdienstmann zurückscheuen. »Warum entschied sich Dulles, den Holocaust in seinen Berichten an Washington nicht hervorzuheben?«, wundert sich der Historiker Neal H. Petersen, Herausgeber von Dulles’ OSS-Geheimdienstberichten. Petersen ringt merklich mit einer Antwort auf seine Frage. »Was immer der Grund«, so sein vorsichtiger Schluss, »seine Zurückhaltung bei diesem Thema gehört zu den umstrittensten und unverständlichsten Aspekten seiner Leistung in Bern.«