/Kommentare/Das chinesische Jahrhundert. Die neue Nummer eins ist anders!

Das chinesische Jahrhundert. Die neue Nummer eins ist anders!

Gerade in der aktuellen Krise wird wieder deutlich: Unser Bild von China ist verzerrt und unterbelichtet. Wolfram Elsner plädiert für einen offenen Dialog sowie verlässliche, langfristige und selbstbewusste Kooperation mit der neuen Nummer eins. Sein Buch Das chinesische Jahrhundert erscheint am 6. April 2020, lesen Sie zum Erscheinen den aktuellen Kommentar des Autors.

China ist in aller Munde, erst recht seit der Corona-Pandemie. Und wir reiben uns die Augen: War China nicht dieses arme Entwicklungsland, diese verlängerte Werkbank des hochentwickelten Westens, dieser große Umweltverschmutzer, eine Überwachungsdiktatur und ein Gefängnis für ethnische Minderheiten, mit Armut und Monsterstädten? Und jetzt sowas: China wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in den höchsten Tönen gelobt, bekommt das Corona-Virus in idealer Weise, hochorganisiert und schnellstmöglich in den Griff, hat die besten öffentlichen Notfallpläne für die Krankenhäuser und für das Gesundheitswesen und genügend Schutzmaterial … Kein einziger Arzt oder Pfleger (Ärztin und Pflegerin) der Rettungsteams hat sich dort angesteckt. Der Staat koordinierte sich täglich bis hinauf zum Staatspräsidenten XI mit den WHO-Delegationen, teilte alle Informationen international online und in Echtzeit mit allen Ländern und verschaffte so dem Westen mit seiner konsequenten Bekämpfung des Virus – ohne Rücksicht auf „die Wirtschaft“ oder „die Börse“! – viele Wochen Zeitvorsprung.

Und kaum ist die Epidemie in China überwunden, bietet das Land vielen unter der Pandemie leidenden anderen Ländern sofortige Hilfe in Form von ganzen Schiffs- und Flugzeugladungen von Material und qualifiziertem Personal an. Da wird nicht nur den ostasiatischen Nachbarn, dem Iran, Irak, Nicaragua oder Venezuela massiv geholfen. Da ist China plötzlich mitten in der EU, in seinen entwickelten Kernländern Italien, Frankreich, Spanien, Griechenland und auch Serbien der effektivste Lieferant von Schutzkleidung, Test-Sets, Medikamenten, medizinischem Personal und effektivem Therapiewissen.

Wie sich die Welt geändert hat! Nachdem man jahrzehntelang den Eindruck hatte, das sich strukturell nichts mehr ändert in der Welt, dass ein weiteres Jahrhundert der neoliberalen Globalisierung unter Führung des großen Imperiums USA, mit seinem globalen Alleinherrschaftsanspruch, und der endlosen Vermehrung des Papiergeldes an den Börsen begonnen hat, in dem alles immer nur noch „nach oben“ geht, nachdem Philosophen bereits „das Ende der Geschichte“ mit für immer verfestigten Machtstrukturen verkündet hatten, nachdem wir strukturell scheinbar völlig unbewegliche Jahrzehnte erlebt haben, merken wir plötzlich: Wir erleben Geschichte, und erleiden sie, spüren sie, jeden Tag, sind mittendrin. Plötzlich leben wir in einer Welt, in der sich fast täglich viele entscheidende Strukturen ändern. Wir sind plötzlich Zeitzeugen riesiger struktureller Brüche, von denen wir noch nicht wissen, wo sie hinführen.

Nur ein Aspekt davon ist die Tatsache, dass Chinas Gesundheitssystem um einiges besser ist als die Systeme in vielen vermeintlich hochentwickelten westlichen Industrienationen: Statt eines ausgehungerten und kaputtgesparten Krankenhaus- und Gesundheitssystems mit unterbezahltem und ausgebranntem Personal hat China ein robustes, flächendeckendes System von Krankenhäusern, mit ausreichenden Medikamenten, ausreichender Schutzkleidung, medizinischer Leistungsfähigkeit von Pflege bis Forschung, sowie einer der besten Notfallplanungen in der Welt geschaffen.

Wir sehen plötzlich, wie China Zehntausende an medizinischem Personal und Millionen an freiwilligen Helfern mobilisieren konnte, wie massenhafte Kooperation und Solidarität, soziale Disziplin und Engagement ein einheitliches Handeln einer Nation bis hinauf zum Staatspräsidenten möglich machte. Wir erkennen den Unterschied zu unseren schon im Vorfeld der eigentlichen Epidemie überforderten Handlungssystemen. Dass dabei in den ersten Wochen, als man das neue Virus noch nicht genau kannte, in China auch Fehler passiert sind, gehört natürlich auch zur Wahrheit. Doch China experimentiert, lernt und entwickelt sich schnell weiter. Das gilt für die Bekämpfung des Virus genauso wie für den vermeintlichen Auslöser der Pandemie, den Verkauf und Verzehr von Wildtieren. (Ob der Markt in Wuhan tatsächlich der Ursprung war, wird in zahlreichen Studien inzwischen bezweifelt, zumal vier der ersten fünf Gestorbenen keinen Kontakt mit jenem Markt hatten.) Der Handel mit Wildtieren wurde jedenfalls bereits frühzeitig nach Ausbruch der Epidemie verboten. Und Essengewohnheiten (sowohl traditionelle als auch die der Fast-Food-Generation) sind in China ohnehin seit längerem in der öffentlichen Diskussion. China organisiert nach der Epidemie seine Verhaltensweisen neu, seine traditionelle ländliche Märkte-Kultur und seine Essenskulturen. Einsichten werden hier schnell umgesetzt, neues ausprobiert, aus Fehlern gelernt, verändert – manchmal schneller als wir gucken können.

Für viele Europäer hat somit das Jahr 2020 mit erheblichen Überraschungen, Lernerfahrungen und, bei aller aktuellen, grassierenden Angst um die eigene Gesundheit, mit ungeahnten Erkenntnissen über die neuen Realitäten und Strukturen der Welt begonnen. Unser altes europazentriertes Weltbild gerät ins Wanken. Was noch vor Wochen unvorstellbar schien, dass das ferne „Entwicklungsland“ China Solidarität mit den entwickelten Ländern der EU übt und dort massive Hilfe bereitstellt, in denen die Pandemie zur Tragödie geworden ist, wird in unseren Köpfen Auswirkungen auf lange Sicht haben, die wir noch nicht abschätzen können. Unser europazentriertes Weltbild muss geändert werden.

Wir sollten daher auf die Kooperationsangebote, die aus China kommen, ernsthaft und selbst-bewusst eingehen, uns klar machen, was wir für Vorteile haben, unsere nationalen strukturellen Interessen definieren, mit China die Win-Win-Konstellationen ausloten, ausverhandeln und verlässlich langfristig umsetzen. China-Bashing demonstriert nur, einigermaßen unberechtigt, die gefühlte Schwäche der westlichen Medien und Politiker. Unsere Mittelständler, Ingenieure und Facharbeiter, die die Brötchen für die Politiker verdienen müssen, und die in China kooperieren, wissen es besser. Die werden aber, ähnlich wie im Fall Russlands, nicht gefragt zu den langfristigen deutschen Interessen. Bekommen wir diese Wende vom Medienkrieg zu ehrlicher, nachhaltiger Kooperation nicht hin, wird der größte Teil der Weltgeschichte über uns hinweggehen.

Überraschend aber kommt das alles nur für diejenigen, die China noch nicht wirklich kannten, die noch den im Westen vorherrschenden Erzählungen der Tagesmedien ihren Glauben geschenkt haben. In diesem Buch über das chinesische Jahrhundert und diese „ganz andere“ neue Nummer eins in der Welt, finden sich Prognosen über China, das Coronavirus und die Konsequenzen, die nun schon wenige Wochen später eingetreten sind. Und es zeigt dem Leser und der Leserin, dass all das Neue, Überraschende, das unsere alten Weltbilder in den letzten Wochen plötzlich wie Schuppen von den Augen fallen lässt, alles andere als überraschend ist.

Dazu gehört etwa auch, dass China inzwischen zum weltweiten Vorreiter des Klimaschutzes geworden ist: Milliarden neu gepflanzter Bäume drängen die Wüsten zurück, grüne Megastädte machen das Leben von Millionen Menschen lebenswert, Autobahnen aus Solarplatten ermöglichen Reisen mit Induktionsstrom, Inlandsflüge werden ersetzt durch Magnetschwebebahnen, die 600 Stundenkilometer und mehr fahren, Kohlekraftwerke und alte Industrien werden flächendeckend stilllegt – selbst aus dem Weltall beobachtet ist China inzwischen das grünste Land (wie die NASA feststellt). Auf allen Gebieten gibt es atemberaubende ökologische Innovationen – Technologien und Verhaltensweisen eingeschlossen.

Dieses Land hat nicht nur 800 Millionen Menschen aus der Armut geholt, es verteilt nun von oben nach unten zurück, entlastet kleine und mittlere Einkommen massiv von Steuern und verpflichtet Milliardäre, ihre Gewinne für die Infrastrukturen einzusetzen. Dieses Land wird von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) für sein fortschrittliches Arbeitsrecht und seine Arbeitspraxis gelobt, während das westliche Kapital, das auf billige Arbeitskräfte setzt, allmählich gezwungen ist, weiterzuziehen.

Das Buch handelt nicht nur von bekannten und unbekannten Technologieoffensiven sondern auch von die unbekannten Formen, in denen China den Markt als Instrument nutzt – statt, wie der Westen, ihn als Goldenes Kalb und Selbstzweck anzubeten. Das ermöglicht ungekannte Dynamiken, und ein millionenfaches neues Unternehmertum, dessen Ideenfinanzierung gesichert wird. Eigentumsformen und Unternehmensformen sind vielfältig und die Sharing Economy, das Teilen von Autos, Wohnraum, Computern, Hard- und Software sowie Wissen und Dienstleistungen in vielen Formen, wächst dynamischer als in irgendeinem anderen Land.

Das Buch räumt auf mit Unwissen über China und zeigt das Land in seiner ungekannten Dynamik und Vielfalt. Es geht ein auf aktuelle Themen wie „Uiguren“, „Hongkong“, „Corona“, Cyber- und IT-Techniken oder die verschiedenen experimentellen Sozialkreditpunkte-Systeme. Schließlich wird die Neue Seidenstraßen Initiative, von der auch Deutschland profitiert, als eine neue, alternative Form der Globalisierung in all seinen unbekannten und wiederum überraschenden Aspekten dargelegt.

Im Buch wird auch diskutiert, wo bei alledem Deutschland und die EU bleiben. Welche Rolle wird in Zukunft China und sein System spielen? Eine Frage, die, wie wir aktuell erkennen, nicht ganz unbedeutend geworden ist für die Zukunft der Menschheit.

China verstehen lernen, ist also im eigenen Interesse. Und China verstehen lernen bedeutet, uns selbst besser verstehen zu lernen. Beim Lesen dieses Buches setzen wir allmählich und unwillkürlich unsere europazentrierte Brille ab, und es ergeht uns wie den vielen Technikern und Ingenieuren, die China kennengelernt haben, mit denen ich in chinesischen Städten in Hotellobbys, im Flugzeug nach und von China und in der Deutschen Bahn gesprochen habe. Mit diesem Buch begeben wir uns auf die gleiche Abenteuerreise in die Zukunft, auf die diese beruflichen Chinareisenden auch geraten sind.

Wolfram Elsner

Wolfram ElsnerWolfram Elsner, geb. 1950, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Uni Bremen und war Leiter am Bremer Landesinstitut für Wirtschaftsforschung. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher internationaler Publikationen und Lehrbücher und Managing Editor, Forum for Social Economics 2012-2019. Internationale Lehraufenthalte führten ihn als Adjunct Professor an die Univ. of Missouri, Kansas City und seit 2015 als Gastprofessor an die School of Economics, Jilin Univ., Changchun, China.

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