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Alles was Klicks, Likes und Shares, Qutoe, Auflage bringt ist angesagt. Auch jenseits von Facebook, Instagram und Twitter sieht Realität heute oft so aus wie das, was wir vom Bildschirm kennen: Bunt, grell und originell und vor allem: Herausstechen aus der Masse ist das Leitmotiv. Inhalte, Wichtigkeit, Relevanz spielen nur noch eine Rolle, insofern sich mit Ihnen Aufmerksamkeit schaffen lässt. Und so passierte es, dass unlängst die abendliche Tagesschau damit aufmacht, dass bei den olympischen Spielen ein deutscher Biathlet den dritten Rang erreicht hat.
Michael Meyen beschreibt in seinem neuen Buch ebenso scharfsinnig wie unterhaltsam, wie der Imperativ der Aufmerksamkeit inzwischen unser aller Leben verändert hat, und zeigt, wie wir uns dagegen wehren können. Das Buch erscheint am 1. März.
Der 31. Mai 2015 war ein guter Sonntag für US-amerikanische Journalisten. Zumindest für die, die arbeiten mussten. Außenminister John Kerry hatte sich beim Radfahren in Frankreich das Bein gebrochen und wurde in ein Krankenhaus nach Genf geflogen. Ein Aufreger, der samt Rücktransport in die Heimat auch noch den halben Montag füllen würde. Und dann starb der Sohn des Vizepräsidenten. 46 Jahre, Hirntumor. Was für eine Geschichte. Joe Biden, ganz nah am Machtpol dieser Welt und doch vom Schicksal geschlagen. Ein Mann, der vor einer halben Ewigkeit schon Frau und Tochter bei einem Unfall verloren hatte. Auch der kleine Beau saß damals, 1972, mit im Wagen. John Kerry und Joe Biden. Beinbruch und Familientrauer zur Prime Time, auf jedem Kanal. Etwas Wichtigeres hatte die Welt an diesem Sonntag nicht zu bieten, zumindest nicht für Fernsehredakteure in den USA. Vermutlich wussten sie, wie gut die beiden Themen im Netz liefen. Auch Barack Obama ließ die Zuschauer schnell wissen, dass er und seine Frau Michelle für Beau Biden und die Seinen beten. Immerhin, auch das durften wir erfahren, blieb dem Präsidenten etwas Zeit, nicht nur den Herrn anzurufen, sondern auch John Kerry. Die drei mächtigsten Politiker der USA, vereint in einem Drama von biblischem Ausmaß. Selbst die Plagen, die einst Ägypten heimsuchten, hätten kein größeres Schlagzeilengetöse ausgelöst.
Natürlich: Es war Sonntag. Wer je in einer Nachrichtenredaktion gesessen hat, der weiß, was das bedeutet. Warten auf das Fußballspiel, auf ein Zugunglück, auf irgendeinen Streit. Hauptsache, man hat etwas zu melden. John Kerry und Joe Biden. Besser kann so ein Sonntag gar nicht werden. Das Problem ist: Auch montags und mittwochs bekommen Leser, Hörer und Zuschauer Dramen ohne Inhalt und das längst nicht mehr nur in den USA. Schleichend und fast unbemerkt hat sich das verändert, was deutsche Redakteure für so wichtig halten, um ihr Publikum damit zu behelligen. Journalismus war schon immer vor allem Selektion. Nicht einmal eine Kleinstadt passt in fünf Minuten Sendezeit und auch nicht auf drei Lokalseiten. Heute aber, das ist die erste These dieses Buchs, heute wählen Redakteure in Deutschland etwas ganz anderes aus als ihre Vorgänger noch vor 30 oder 40 Jahren. Und das, was sie auswählen, verpacken diese neuen Redakteure anders: grell, schrill, laut. Wenn es den objektiven Beobachter früher gegeben haben sollte – zum Beispiel in Gestalt des Fernsehmannes, den Tagesthemen-Moderator Hanns Joachim Friedrichs 1995 kurz vor seinem Tod besungen hat (»Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffentliche Betroffenheit versinken, im Umgang mit Katastrophen cool bleiben, ohne kalt zu sein«1) –, wenn es ihn tatsächlich je gegeben haben sollte, dann ist dieser Kollege inzwischen ausgestorben.
Hanns Joachim Friedrichs, Jahrgang 1927, erzählte seinerzeit im Nachrichtenmagazin Der Spiegel, er habe nach dem Krieg beim deutschen Dienst der BBC gelernt, was guter Journalismus sei. Informieren und aufklären, das vor allem. Eine »Art Nachhilfeunterricht für Diktaturgeschädigte«. Die Parteien raushalten, auch aus den Gremien. Der Fernsehmann als »Mensch, der mit am Esstisch sitzt, der ein bisschen mehr weiß, weil er die Fähigkeit hat, unbefangen in die Welt zu gucken und das, was er entdeckt, so wiederzugeben, dass die Leute ihm glauben«. Auch nicht unwichtig: »die Leute abends in ihrer Wohnung nicht anbrüllen«. Sie selbst entscheiden lassen, »ob sie betroffen sein wollen oder nicht«.2
Vorbei. »Lügenpresse, halt die Fresse«, schreit und stöhnt der Wutbürger. Vertrauenskrise, sagt Uwe Krüger, ein Leipziger Medienforscher, ausgelöst durch die Ukraine-Berichterstattung – durch ein »Schwarz-Weiß-Bild«, in dem »wesentliche Fakten unterschlagen« worden seien. Krüger: »Man merkt die Absicht und ist verstimmt.«3 Auch die ARD-Dokumentation »Vertrauen verspielt?«, die am 11. Juli 2016 zu später Stunde im Ersten lief, macht die Medienschelte an dem fest, was gesendet und geschrieben wurde und was vielleicht auch nicht. Flüchtlinge und die Silvesternacht von Köln, Putin, die Jagd auf Christian Wulff. Sehr konkrete Inhalte für eine eher diffuse Kritik. Dieses Buch zeigt, dass die Inhalte austauschbar sind. Und dass es nicht besser werden wird, wenn wir nicht zuerst verstehen, wie Journalisten das zusammenstellen, was wir für wichtig halten müssen, und dann darüber sprechen, was wirklich wichtig wäre.
Aus der Einleitung