Auf Erdogans Gerichtsfluren
In der Türkei landen immer mehr Kritiker des Präsidenten vor dem Kadi. Kanzlerin Merkel trifft sich nicht mit den politisch verfolgten Journalisten bei ihrer Türkeireise.
Die Entschuldigung von Bundeskanzlerin Angela Merkel für ihre Vorverurteilung des ZDF-Satirikers Jan Böhmermann kommt zu spät. Der Schaden ist bereits angerichtet. Vor dem Hintergrund ihrer Türkeireise, bei der sie keinen der bedrängten Journalisten traf, scheint dazu ein wirklicher Sinneswandel der Kanzlerin nicht in Sicht, der türkische Staatspräsident Erdogan kann sich die Hände reiben. Merkel bleibt seine beste Stütze.
Nach dem Strafbegehren Ankaras gegen den ZDF-Satiriker Jan Böhmermann wegen „Majestätsbeleidigung“ und der Zurückweisung des ARD-Korrespondenten Volker Schwenck am Istanbuler Flughafen hat es auch die SPD gemerkt: Die Türkei habe „ganz offensichtlich ein gebrochenes Verhältnis zur Pressefreiheit“, konstatierte SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann in dieser Woche im ARD-„Morgenmagazin“. Die innere Pressefreiheit in der Türkei sei bedroht, jetzt werde auch noch die internationale Berichterstattung behindert.
Man muss schon beide Augen lange fest zugedrückt haben, um so spät erst zu einer halbwegs wirklichkeitsnahen Einschätzung der Zustände in der Türkei unter Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zu kommen. Seit dem 25. März 2016 stehen der Chefredakteur der regierungskritischen Tageszeitung „Cumhuriyet“, Can Dündar, und der Leiter des Ankara-Büros Erdem Gül vor Gericht. Sie sind angeklagt wegen Spionage, der Preisgabe von Staatsgeheimnissen, der Vorbereitung eines Staatsstreichs und der Beihilfe zur Bildung einer terroristischen Vereinigung. Ihnen droht zweimal lebenslänglich Haft.
Das „Verbrechen“ der beiden Journalisten: Sie haben ihre Arbeit gemacht und im Mai vergangenen Jahres eine illegale Waffenlieferung aus der Türkei an islamistische Terrorgruppen in Syrien publik gemacht. Videos und Fotos dokumentieren, wie Granaten als angebliche Hilfslieferungen getarnt auf Lastwagen im südtürkischen Adana transportiert wurden. Durch eine Razzia lokaler Behörden war der staatsterroristische Deal aufgeflogen: Ausgerechnet unter Babynahrung war Erdogans Kriegsgerät für den Regime-Change-Krieg im Nachbarland versteckt.
Can Dündar und Erdem Gül haben mit ihrer Veröffentlichung einen Nerv getroffen. Der türkische Geheimdienst MIT räumte ein, Auftraggeber des Transports zu sein. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu wütete, „was in dem Lastwagen war, geht niemanden etwas an“, und sein Staatspräsident Erdogan tobte: „Die Operation gegen den Geheimdienst war ein Spionageakt. Die Person, die diese Exklusivnachricht veröffentlicht hat, wird dafür einen hohen Preis bezahlen. So einfach lasse ich ihn nicht davonkommen.“
Die Drohung Erdogans sollte sich auch auf Staatsbedienstete erstrecken. Der Oberstaatsanwalt von Adana und vier weitere an der Razzia beteiligte Staatsanwälte sowie zehn Gendarmerie-Angehörige sind vom Dienst suspendiert, inhaftiert und wegen Geheimnisverrat angeklagt worden. Über die „Affäre“ wurde in der Türkei eine Nachrichtensperre verhängt, der Zugriff auf das „Cumhuriyet“-Video im Internet staatlicherseits blockiert (hier lässt er sich dennoch finden).
Erdogan will mit dem Fall Dündar und Gül ein Exempel statuieren. Unmittelbar nach Prozessauftakt am 25. März wurde die Öffentlichkeit ausgeschlossen, der Präsident selbst und der Geheimdienst MIT wurden als Nebenkläger zugelassen. Es droht ein regelrechter Schauprozess.
Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Europäische Union verhandelten mit der türkischen Führung gerade über einen Flüchtlingsabwehrdeal und stellten Ankara eine Beschleunigung der EU-Beitrittsverhandlungen sowie zügige Visafreiheit in Aussicht, da kündigte Erdogan an, er wolle die Terrorismusdefinition im Strafrecht so erweitern, dass fortan auch Journalisten, Akademiker und Abgeordnete verfolgt werden können. „Zwischen Terroristen, die Waffen und Bomben tragen, und jenen, die ihre Position, ihren Stift oder ihren Titel den Terroristen zur Verfügung stellen, damit diese an ihr Ziel gelangen, besteht überhaupt kein Unterschied“, zitierte die staatliche Nachrichtenagentur „Anadolu“ den Staatschef. „Wir können nicht mehr dulden, dass jene, die von unseren Sicherheitskräften aufgegriffen werden, weil sie Terrororganisationen unterstützen, durch die eine Tür des Gerichts hineingehen und durch die andere wieder hinaus. Hier geht es nicht um Meinungsfreiheit, Pressefreiheit oder Versammlungsfreiheit.“
Sedat Ergin, Chefredakteur der türkischen Tageszeitung „Hürriyet“, wird in diesem Jahr mit dem „Freedom of Speech Award“ der „Deutschen Welle“ ausgezeichnet. Er ist– wie mittlerweile 2000 weitere Bürger der Türkei – wegen „Beleidigung“ des Präsidenten angeklagt. Seine düstere Bestandsaufnahme über die Zustände bei Merkels Partner am Bosporus: „Im Jahr 2016 sind die Flure in den Gerichtsgebäuden und die Gerichtssäle die Heimat von türkischen Journalisten geworden. Die Pressefreiheit in der Türkei ist 2016 auf die Gerichtsflure begrenzt.“
Im aktuellen Spiegel wirft Cumhuriyet-Chef Can Dündar Bundeskanzlerin Merkel vor, zu den Menschenrechtsverletzungen in der Türkei zu schweigen. „In der Türkei herrscht ein Kampf zwischen Demokraten und Autokraten». In dieser historischen Schlacht stehen Sie und Ihr Land leider auf der falschen Seite.“ Am Vortag der Merkelreise fand der dritte Prozesstag gegen Can Dündar und Erdem Gül statt. Auf dem gemeinsamen Weg zum Gericht gab er mir ein Videostatement für die Öffentlichkeit in Europa mit.
Die Meinungsfreiheit allgemein steht in Erdogans Türkei unter Beschuss. Das Auswärtige Amt in Berlin warnt mittlerweile davor, bei Besuchen am Bosporus den Präsidenten in der Öffentlichkeit zu kritisieren. Am 22. April wurde in Istanbul auch der politische Prozess gegen vier Unterzeichner eines Appells der „Akademiker für den Frieden“ eröffnet. Die seit März inhaftierten Angeklagten sind Esra Munger, Professorin an der Universität Bogazici, der Kunsthochschullehrer Muzaffer Kaya, Kivanc Ersoy, Professor an der Universität Nisantasi und seine Kollegin Meral Camci, die bis Februar an der Uni Yeni Yüzyil lehrte. In einer Onlinepetition haben sie und mehr als 2200 weitere Wissenschaftler das Vorgehen der türkischen Regierung in den kurdischen Gebieten kritisiert und ein Ende des Militäreinsatzes in Diyarbakir-Sur, Silvan, Nusaybin, Cizre, und Silopi gefordert. Die Städte standen damals seit einem Monat unter Ausgangssperre. Die Erklärung wirft der türkischen Führung vor, eine „Vernichtungs- und Vertreibungspolitik“ zu betreiben. Die Unterzeichner rufen zur Wiederaufnahme des Friedensprozesses mit den Kurden auf.
Wie die kritischen Journalisten beschimpfte Erdogan die Intellektuellen als „Landesverräter“ und als „Bande, die sich selbst Akademiker nennt“. Regierungsnahe Zeitungen erklärten sie zu „Kollaborateuren der PKK“ und veröffentlichten Namen und Fotos. Universitätsleitungen und Staatsanwälte haben rund 600 Disziplinarverfahren eingeleitet. Wohnungen und Büros wurden durchsucht. Mehr als 30 Wissenschaftler wurden festgenommen. Den Angeklagten in Istanbul wirft die Staatsanwaltschaft unter anderem „Propaganda für eine Terrororganisation“ vor. Ihnen drohen bei einer Verurteilung jeweils bis zu sieben Jahren Haft. Auch dieser Prozess findet im größten Gerichtsgebäude Europas in Istanbul statt, wo es Schlag auf Schlag zugeht. Siehe hierzu ein Videostatement vom Gericht.
Die Verfahren gegen die „Cumhuriyet“-Spitze und die „Akademiker für den Frieden“ sind eine Farce und ein politischer Skandal. Nicht die Journalisten und Wissenschaftler gehören vor Gericht, sondern die politisch Verantwortlichen für Waffenhilfe an islamitische Terrorbanden und Kriegsverbrechen. Die Türkei unter Erdogan befeuert den Krieg in Syrien und hat ihn mittlerweile auf die Türkei selbst ausgedehnt. Seine Armee feuert auf Stellungen der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPD, die gegen den „Islamischen Staat“ kämpfen; sein Geheimdienst liefert Waffen an Dschihadisten; seine Polizei stürmt Redaktionen, die das kritisieren, und belagert kurdische Städte im Südosten der Türkei. Erdogan ist kein Partner bei der Lösung der sogenannten Flüchtlingskrise, er ist Teil des Problems. Statt den türkischen Staatspräsidenten seitens der EU zu hofieren, muss endlich klare Kante zur Verteidigung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei, aber auch in Deutschland und der EU gezeigt werden. Erdogans Platz sollte nicht das Brüsseler diplomatische Parket, sondern eine Anklagebank in Den Haag sein.