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Altruismus oder Egoismus – was ist dem Menschen angeboren?

Die Folgen der Coronakrise stellen unsere Gesellschaft auf eine harte Probe. Während selbst innerhalb des Schengenraumes wieder Grenzen schließen, zeigen sich viele Menschen im direkten Miteinander höchst altruistisch und praktizieren in der Krise kreative Formen der Solidarität. Da stellt sich die Frage: Ist der Mensch von Natur aus egoistisch und immer darauf aus, für sich selbst den größtmöglichen Nutzen herauszuschlagen? Oder wurde ihm vielmehr Altruismus in die Wiege gelegt und der Egoismus erst im herrschenden neoliberalen System „gelernt“? Andreas von Westphalen beleuchtet diese Frage anhand vieler Studien in seinem Buch Die Wiederentdeckung des Menschen sowie in dem folgenden Kommentar.

Ist die intuitive Reaktion eines Erwachsenen egoistisch und muss erst in einem Prozess des Nachdenkens überwunden werden, gleichsam als Resultat eines Erziehungsprozesses, oder ist unsere intuitive Entscheidung im Gegenteil zunächst altruistisch und wird erst durch die Selbstkontrolle des Nachdenkens zu einer egoistischen Reaktion umgeformt? Diese grundlegende Fragestellung untersuchten David G. Rand, Joshua D. Greene und Martin A. Nowak der Universität Harvard. Die Studie mit dem Titel »Spontaneous Giving and Calculated Greed« (deutsch: Spontanes Geben und kalkulierte Gier) konnte faszinierenderweise zeigen, dass insbesondere bei schnellen Entscheidungen Altruismus, Kooperation und Großzügigkeit im Vordergrund stehen. Intuitiv fällen Menschen also eher altruistische Entscheidungen, während nach einer längeren Bedenkzeit bei einem Teil der Probanden eher egoistische Motive in den Vordergrund rücken.

In einem weiteren Experiment konnte nachgewiesen werden, dass der Bereich des Gehirns, der impulsives Verhalten kontrollieren soll (im präfrontalen Cortex), Altruismus unterdrückt und egoistisches Verhalten unterstützt. Wird dieser Bereich künstlich ausgeschaltet, also ein Zustand erzeugt, in dem der Mensch seinen Impulsen direkt und spontan folgt, waren die Probanden um die Hälfte großzügiger als die Kontrollgruppe. Auch eine Untersuchung der Universität Utrecht bestätigt, dass der Mensch eher als Altruist geboren wird und kalkulierendes Verhalten, das vorwiegend auf den eigenen Vorteil abzielt, erst im Laufe des Lebens erlernt wird.

Wenden wir uns nun den Kleinkindern zu: Fundamentale Bedeutung für das Verständnis der Natur des Menschen kommt einem faszinierenden Experiment des Harvard-Professors Felix Warneken zu, das er gemeinsam mit Michael Tomasello durchführte. Die Testgruppe bestand aus Kleinkindern zwischen 14 und 18 Monaten, einem Alter also, bevor die meisten Eltern ihre Kinder aktiv zu dem Verhalten erziehen. Die Kleinkinder begegneten in diesem Experiment einem Erwachsenen, der vor einem Problem steht. Er kann beispielsweise eine Schranktür nicht öffnen, weil er hierfür keine Hand mehr frei hat. 22 von 24 Kindern halfen in mindestens einem Fall, und dies praktisch sofort, obwohl der Erwachsene kein Familienangehöriger war und auch keine Belohnung in Aussicht stand.

Insgesamt war die Hilfsbereitschaft der Kleinkinder so hoch, dass die Autoren des Experiments den Kindern ein neues Spiel zur Ablenkung einführen mussten. Obwohl die Kleinkinder fortan in ihr neu entdecktes Spiel vertieft waren, brach dennoch die überwältigende Mehrheit der Kinder ihr Spiel ab, um zu helfen. Sie waren also sogar bereit, »einen Preis« zu zahlen (um in den kapitalistischen Sprachduktus zu verfallen), um anderen helfen zu können. Darüber hinaus lernten die Kinder schnell den Verlauf des Problems und antizipierten dann folgerichtig die benötigte Hilfe. Felix Warneken kommentiert das gefundene Ergebnis mit folgenden Worten: »Diese Kinder sind so klein, dass sie noch Windeln tragen und kaum sprechen können, und trotzdem zeigen sie schon Verhaltensweisen gegenseitiger Hilfe.«

In einer weiteren Studie beobachteten die beiden Autoren das Verhalten der Kleinkinder, sowohl alleine als auch in Anwesenheit der Eltern. Dabei fanden sie heraus: Erstaunlicherweise ist die Hilfsbereitschaft von Kleinkindern unabhängig von der Anwesenheit und den Aufforderungen ihrer Eltern.

Ein letztes interessantes Detail aus der Kleinkinderwelt: Eineinhalbjährige helfen oft, und sogar dann, wenn sie dafür etwas abgeben müssen. Bei Zweieinhalbjährigen ist diese Bereitschaft noch höher.

Ein zentraler Aspekt des Altruismus in der Erwachsenenwelt untersuchte ein bedenkenswertes Experiment eines Teams von Molly Crockett (Universitäten London und Oxford). Sie befasste sich mit der Frage, ob Menschen dem eigenen oder dem Schmerz einer fremden, unbekannten Person mehr Bedeutung beimessen. In dem Experiment konnten Menschen Geld dafür einsetzen, um kleine Stromschläge gegen sich selbst oder gegen andere abzuwenden. Das verblüffende Ergebnis war, dass die meisten Menschen hier die Interessen anderer über ihre eigenen stellten. Im Durchschnitt waren die Versuchspersonen bereit, sogar einen doppelt so hohen Beitrag zu zahlen, um einem anderen, unbekannten Menschen Schmerzen zu ersparen, als wenn es darum ging, den eigenen Schmerz durch einen Stromschlag zu vermeiden.

Der neomarxistische Wirtschaftswissenschaftler Samuel Bowles bringt die gewonnenen Erkenntnisse über den Menschen prägnant auf den Punkt: »In den letzten 20 Jahren haben wir festgestellt, dass Menschen weltweit viel moralischer und viel weniger egoistisch handeln, als Ökonomen und Evolutionsbiologen zuvor angenommen hatten, und dass unsere moralischen Grundsätze überraschend ähnlich sind: Gegenseitigkeit, Fairness und Hilfe für Menschen in Not, sogar wenn das Handeln aus diesen Motiven für eine Person persönlich kostspielig sein kann.«

Andreas von Westphalen

Andreas von WestphalenAndreas von Westphalen studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Neuere Germanistik und Philosophie in Bonn, Oxford und Fribourg. Er ist als Theater- und Hörspielregisseur und Journalist tätig.

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